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Post mortem. Amalia ZeichnerinЧитать онлайн книгу.

Post mortem - Amalia Zeichnerin


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er an der Technik des Bildes und an dem Kleidungsstil erkannte. Damals hatten die Damen noch runde Reifröcke getragen, dazu lange Raffungen auf der Rückseite des Rockes bis hin zu längeren Schleppen. Die Dame saß auf einem Stuhl, ihr mutmaßlicher Gatte stand neben ihr und hatte in einer vertraulichen Geste eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Eine Jugendliche stand etwas seitlich neben der Frau.

      »Das muss Miss Westray in jungen Jahren sein«, sagte Clarence und deutete auf die Jugendliche. »Dieselbe hohe Stirn und die schmale Nase.«

      Mabel lachte auf. »Wie du das immer so schnell erkennen kannst! Selbst anhand einer so kleinen Abbildung …«

      Er zuckte mit den Schultern. »Ich hatte eben schon immer ein gutes Gesichtergedächtnis. Das muss ich von Vater geerbt haben.«

      Mabel griff nach der Feder, die sich in der Schachtel befand. »Ich werde die Adresse der Westrays abschreiben, dann können wir ihren Brief hierlassen.«

      »Ist denn noch Tinte da?« Clarence deutete auf die Schachtel, in der das Tintengläschen lag.

      Mabel nahm es heraus und schraubte den Deckel ab. »Ja, das wird reichen.« Sie notierte die Adresse auf einer Ecke des unbeschriebenen Blattes Papier, das ebenfalls in der Schachtel gelegen hatte.

      Währenddessen ließ Clarence seinen Blick noch einmal über das Bücherregal schweifen. In einem der Bücher steckte ein Blatt Papier. Er öffnete das Buch. Bei dem Papier handelte es sich um einen Zeitungsausschnitt. Ob dieser als Lesezeichen diente?

      Er nahm den Zeitungsausschnitt heraus und las ihn im Schein der Öllampe.

      »Was liest du da?«, erkundigte sich Mabel und trat einen Schritt auf ihn zu.

      »Ach, das ist ein Zeitungsbericht, eine Vorankündigung zu einem Konzert. Es geht darin um einen Auftritt des sogenannten Bach-Chors, der von einem gewissen Otto Goldschmidt gegründet wurde. Hier steht, er sei mit der als die ›schwedische Nachtigall‹ bekannt gewordenen Opernsängerin Jenny Lind verheiratet. Sie erteilt den Sopransängerinnen im Chor Unterricht und wird selbst ebenfalls mit dem Chor auftreten.«

      »Ah, die schwedische Nachtigall! Ja, dieser Name ist mir bekannt. Ich habe von ihr gelesen. Vielleicht wollte Miss Westray dieses Konzert besuchen. Hat der Zeitungsbericht ein Datum?«

      Clarence sah nach. »Hier steht, das Konzert sei am 12. Oktober. Also hat es bereits stattgefunden.«

      »Hm.« Mabel schwieg einen Moment lang, ehe sie wieder das Wort ergriff. »Ob dieser ›G.‹ Miss Westray auch dorthin begleitet hat?«

      »Wer weiß, vielleicht?«

      »So, die Tinte dürfte trocken sein.« Mabel steckte das Blatt Papier mit der Adresse der Westrays in ihre Handtasche.

      Clarence legte den Zeitungsausschnitt wieder in das Buch und stellte es zurück ins Regal. »Dann lass uns gehen, meine Liebe.« Seine Finger zitterten wieder ein wenig. Clarence griff nach seinem Gehstock. Gut, dass sie endlich die Wohnung der Verstorbenen verlassen konnten. Himmel, das alles nahm ihn mehr mit, als er sich eingestehen mochte!

      Mabel nickte zustimmend. Kurz darauf löschte sie das Licht und verließ, gefolgt von Clarence, die Wohnung. Sorgfältig schloss er die Wohnungstür wieder ab.

      Ihr Heimweg dauerte gerade mal eine Viertelstunde. Dafür war Clarence angesichts des kalten Regens dankbar, denn unaufhörlich perlten dicke Tropfen von der Hutkrempe seines Zylinders ab, während er sich Schritt für Schritt auf seinen Gehstock stützte. Eine Kutsche fuhr an ihnen vorbei, deren Räder das Wasser aus einer Pfütze an sein Hosenbein spritzten. Ärgerlich, diese Rücksichtslosigkeit! Allerdings war es nicht das erste Mal, dass ihm Derartiges widerfuhr. Doch nun war es auch egal, ihre Bedienstete Lindsey würde die vom Regen feuchte Hose ohnehin zum Trocknen aufhängen müssen.

      Was für eine Wohltat, als er eine Dreiviertelstunde später mit einer bequemen Tweedhose im warmen Wohnzimmer saß, in dem Lindsey das Kaminfeuer geschürt hatte. Eine petrolfarbene Tapete mit einer dezenten floralen Bordüre zierte den Raum, den Mabel behaglich eingerichtet hatte. Ihre Stickarbeiten schmückten die Tischdecke und einige Kissen. Sie hatte auch einen größeren Wandbehang selbst bestickt, der das Alphabet zeigte, umgeben von grünen Blumenranken und gelben Blüten. Damit hatte sie früher den Kindern jeden einzelnen Buchstaben nähergebracht.

      Bevor sie hierhergezogen waren, hatten sie als Familie fast am anderen Ende von Pimlico gewohnt. Clarence mochte das Viertel. Ein Zeitungsbericht hatte im vergangenen Jahr die folgenden Worte darüber gefunden: »Gediegen und wertgeschätzt von Berufstätigen, die zwar nicht reich genug sind für den Luxus in Belgravia, jedoch immerhin reich genug, um in Privathäusern zu leben. Die Bewohner Pimlicos sind lebhafter als jene in Kensington, aber höher angesiedelt als in Chelsea, das durch und durch kommerziell ist.«

      Vor mehr als fünfzig Jahren war der Bauherr Thomas Cubitt von Lord Grosvenor damit beauftragt worden, den Stadtteil zu entwickeln. Clarences Vater hatte ihm davon erzählt, manche der Bauarbeiten hatte dieser selbst als junger Mann miterlebt. Die größten und schönsten Häuser waren schließlich am St George’s Drive und der Belgrave Road sowie an den Plätzen Eccleston, Warwick und St George’s gebaut worden. In der Lupus Street gab es teilweise ähnliche Prachtbauten, außerdem ein Krankenhaus für Frauen und Kinder. Dorthin hatten sie ihren Sohn Theodor einmal bringen müssen, als er sich als Kind das Bein gebrochen hatte.

      Ihre Tochter Adelia war inzwischen verheiratet und lebte bei ihrem Mann. Auch Theodor lebte seit einiger Zeit in einer eigenen Wohnung, sodass Clarence und Mabel den Mietvertrag für die große Familienwohnung gekündigt hatten, nachdem sein Vater gestorben war. Eine Zeit lang hatte seine Mutter noch bei ihnen gelebt, doch vor drei Jahren war auch sie aus dem Leben geschieden, sodass sie sich die Wohnung hier in der Sutherland Street mittlerweile nur noch mit Lindsey teilten. Clarence vermisste seine Eltern noch immer von Zeit zu Zeit. Oft hatte er im Atelier den seltsamen Eindruck, dass er nur zur Tür schauen müsse und sein Vater würde hereinspazieren. Das war natürlich ausgemachter Blödsinn. Er war nicht abergläubisch, glaubte auch nicht an Geister wie manch andere Londoner. Gespenstergeschichten waren etwas zur Unterhaltung, nichts weiter. Aber die Erinnerung an seine Eltern blieb ihm, selbst wenn sie gelegentlich zu solch seltsamen Einbildungen führte.

      Clarence war während des Krieges aufgrund seiner Beinverletzung für kriegsuntauglich erklärt worden und war danach nie wieder als Soldat tätig gewesen. Ein innerer Zwiespalt war das; einerseits wollte er seinem Land dienen, andererseits hatte er auf den Schlachtfeldern so viele Tote gesehen, dass es etwas mit seinem Kopf angestellt hatte – etwas, was ihm ganz und gar nicht gefiel. Und er war nicht der Einzige, dem es so ergangen war.

      Im Lazarett hatten die Ärzte Fälle wie ihn »Kriegszitterer« genannt – gestandene Männer, die in den Krankenbetten lagen und stundenlang regungslos vor sich ins Leere starrten. Die bei bestimmten lauten Geräuschen erschrocken zusammenzuckten und dann minutenlang nicht ansprechbar waren. Oder die jede Nacht laut schreiend erwachten, aus blutigen Albträumen, wie er sie selbst nur allzu gut kannte. Die Ärzte hatten sie beschworen, sich zusammenzureißen, keine Schwächlinge zu sein. Doch ihm hatte diese Ansprache nicht geholfen, die Bilder in seinem Kopf wieder loszuwerden, und jeder verdammte Schritt, den er vor den nächsten setzte, erinnerte ihn bis heute an seine Beinverletzung und damit an den Krieg. Anstatt also wieder die Uniform anzuziehen, hatte er im Fotoatelier seines Vaters mitgearbeitet.

      »Einen Penny für deine Gedanken, mein Lieber«, sagte Mabel sanft.

      Er räusperte sich. »Ach, entschuldige, ich war gerade geistig abwesend. Was gibt es heute Abend zu essen?«

      Wie gut, dass seine Frau ihn aus den düsteren Gedanken gerissen hatte. Dankbar drückte er ihre Hand.

      Eine halbe Stunde später saßen sie am Esstisch. Vor beiden stand ein dampfender Teller. Lindsey hatte sich bereits verabschiedet, da sie sich für den Abend freigenommen hatte.

      »Ich bin immer noch fassungslos, wenn ich daran denke, was passiert ist«, sinnierte Clarence.

      Mabel nickte traurig, während sie das Gemüse auf ihrem Teller mit einer Gabel zerteilte.


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