Das Gute leben. Clemens SedmakЧитать онлайн книгу.
CLEMENS SEDMAK
Das Gute leben
Von der Freundschaft mit sich selbst
Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2015 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck
Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag, Innsbruck
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN 978-3-7022-3468-3 (gedrucktes Buch) ISBN 978-3-7022-3469-0 (E-Book) E-Mail: [email protected] Internet: www.tyrolia-verlag.at
INHALT
4Über das gute Leben nachdenken
5Die Suche nach dem Guten. Eine Zwischenbemerkung
9Gebrauchsanweisung für mich selbst
VORWORT
Gibt es Menschen, die sich selbst in einem Selbstgespräch siezen? Manchen wäre es fast zuzutrauen; ob Queen Elizabeth im vertrauten „Du“ mit sich selbst umgeht, ist eine Spekulation wert.
„Freundschaft mit sich selbst“ ist eine dauerhafte Herausforderung; es ist vielleicht nicht das Schlechteste, höflich mit sich selbst umzugehen, aber eine gewisse Vertrautheit kann wohl auch nicht schaden. So wie andere Freundschaften auch will die Freundschaft mit sich selbst gepflegt sein, die Fähigkeit auch, sich selbst mit liebevollem Blick zu begegnen, das Einzigartige des eigenen Lebens auch zu sehen – und gleichzeitig am eigenen Wachstum ernsthaft interessiert zu sein und dieses aufrichtig zu verfolgen.
Verwandte kann man sich nicht aussuchen, heißt es; Freunde jedoch kann man wählen. Was bedeutet das für die Freundschaft mit mir selbst? Kann ich mir aussuchen, ob ich mit mir selbst durchs Leben gehen will? Das vielleicht nicht – die Vorstellung, dass ich eigentlich nie vor mir selbst flüchten kann, hat auch etwas Ernüchterndes –, aber ich kann doch entscheiden, wie ich mit mir umgehen möchte, wie ich also durch das Leben gehen will. Damit sind wir bei der Frage nach dem Guten im Leben.
Dieses Buch will über die Freundschaft mit sich selbst auf der Suche nach dem Guten im Leben nachdenken. Aristoteles hat drei Formen von Freundschaft unterschieden, wobei die höchste Form der Freundschaft diejenige ist, die sich durch die gemeinsame Ausrichtung auf das Gute auszeichnet. Ähnliches gilt wohl auch für die Freundschaft mit sich selbst – „Selbstführung“ und „Arbeit an sich selbst“ haben sinnvollerweise eine Richtung; diese Richtung ergibt sich aus dem Blick auf das, was gut ist.
Was bedeutet es, das Gute zu leben, das Gute mit Leben zu erfüllen? In Hilde Domins Gedicht Tunnel heißt es zum Schluss: „dies Wort: / ‚Fürchte dich nicht‘ / es blüht / hinter uns her.“
Beide Gedanken sind mir in meinem Leben wichtig geworden: Keine Furcht zu haben; angstfrei durchs Leben zu gehen, nicht leichtsinnig und auch nicht sorglos, aber ohne den Druck quälender und diffuser Ängstlichkeit. Das ist ein gutes Leben. Und: Der Gedanke, dass ein gutes Leben eines ist, von dem man sagen kann: „Es blüht hinter uns her.“ Ein gutes Leben lässt einen Menschen aufblühen und macht dadurch auch andere Blüten und Früchte möglich. Darüber will ich auf den folgenden Seiten nachdenken.
Danken möchte ich meiner Frau Maria für Anregungen, Ermutigungen und Korrekturen und Gottfried Kompatscher vom Tyrolia-Verlag für den Anstoß zu diesem Büchlein und die freundliche Begleitung.
Ich möchte dieses Buch meinem sehr geschätzten Kollegen und lieben Freund, Professor Otto Neumaier, widmen. Otto ist ein tiefer Mensch, dem Tiefes widerverfahren ist. In einem wichtigen Sinn kann Tiefe nur erlitten werden. Ich glaube nicht an Tiefe ohne Tränen – nicht in der Liebe, nicht im Glauben, nicht im Denken. Für Otto Neumaier, einen Denker mit Tränen, gilt schon jetzt: Es blüht hinter ihm her.
Salzburg, im Frühjahr 2015
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ISSA
Im Februar 2014 hielt ich in einer kleinen amerikanischen Stadt ein kleines Mädchen in den Armen – Issa Grace, damals acht Monate alt. Sie war mit Trisomie 18 auf die Welt gekommen, ein winzig kleines Geschöpf; ihre Verdauungsorgane hatten sich aufgrund der Krankheit nicht ausbilden können, sie konnte deswegen nie flach liegen, sondern musste unablässig, 24 Stunden am Tag, gehalten werden. Viele Menschen wechselten sich darin ab, das Baby zu halten. Issa starb am 24. März 2014.
Sean und Felicia, ihre Eltern, sowie die drei Geschwister Sophie, Lucy und Seamus schrieben in einem kleinen Nachruf: „Ihre Reise war kurz, aber ihr Leben war voll von Bedeutung und Sinn und hat uns alle in Weisen geprägt, die sich erst in ihrer Abwesenheit offenbaren werden.“ 290 Tage lang hatte Issa gelebt; sie war Anfang Juni 2013 auf die Welt gekommen und die Ärztinnen und Ärzte hatten ihr nur wenige Stunden gegeben. Sie überlebte den ersten Tag, dann den zweiten Tag, den ersten Monat, den zweiten Monat. Stets mussten Issas Eltern die Geschwister darauf vorbereiten, dass sie wohl nicht mehr den Sommer, das Ende des Sommers, Halloween, den Advent, Weihnachten, das Jahresende … erleben würde. Issa schwebte zwischen Leben und Tod, viele Stunden ihres Lebens. Jeder Tag konnte der letzte sein. Dass sie dann mehr als neun Monate gelebt hat, ist schier ein Wunder.
Issa zu halten war für mich eine ganz besondere Erfahrung: Sie atmete ein wenig mühsam, machte kleine Bewegungen, zeigte sich zerbrechlich und doch so stark, kämpferisch in ihrem Lebenswillen, vertrauensvoll und ausgeliefert. Als ich Issa hielt, ging etwas in mir vor, die Erfahrung machte etwas mit mir, das schwer zu beschreiben ist. Es gibt die Phrase „Etwas bringt das Beste aus dir heraus“; etwas in dieser Art geschah in diesem Moment und für diesen Moment. Empfindungen von Schutzwillen und Ehrfurcht stiegen in mir auf; ich hatte das Gefühl, etwas in sich Bedeutungsvolles zu tun, etwas zu machen, das keine großen Begründungen und Erklärungen verlangte: Issa halten. So gesehen war nicht klar: Wer hält wen?
Hält das Starke das Schwache oder hält das Schwache das Starke? Im März 2015 durfte ich einen Gottesdienst anlässlich des ersten Todestages von Issa mitfeiern und lernte eine Reihe von Menschen kennen, die Issa regelmäßig gehalten hatten. Sie alle waren erfüllt von dieser Erfahrung, einer in sich ruhenden und transformativen