Der Glöckner von Notre-Dame. Victor HugoЧитать онлайн книгу.
Victor Hugo
Der Glöckner von Notre-Dame
Übersetzt
Walter Keiler
Saga
Der Glöckner von Notre-Dame ÜbersetztWalter Keiler Original Notre-Dame de ParisCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1831, 2020 Victor Hugo und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726643046
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Vor einigen Jahren fand der Verfasser dieses Buches, als er die Notre-Dame-Kirche besuchte oder, richtiger gesagt, als er die Kirche durchstöberte, in einem finsteren Schlupfwinkel eines ihrer Türme das mit der Hand in die Wand eingegrabene Wort: ANÁTKH («Verhängnis»).
Diese vom Alter geschwärzten und ziemlich tief in den Stein getriebenen griechischen Versalbuchstaben, gewisse, ich weiß nicht was für welche, der gotischen Schreibkunst eigentümliche Zeichen, vor allem der düstere und schicksalsschwere Sinn, den sie in sich schließen, frappierten den Verfasser außerordentlich. Er ging mit sich zu Rate und suchte zu erforschen, wer die gepeinigte Seele sein konnte, die nicht aus dieser Welt hatte scheiden mögen, ohne dieses Wundmal des Verbrechens oder des Unglücks auf dem Stein der altertümlichen Kirche zu hinterlassen. Seitdem hat man (ich weiß auch nicht, wer) die Wand getüncht oder abgekratzt, und die Inschrift ist verschwunden. Denn so verfährt man seit bald zwei Jahrhunderten mit den wundervollen Kirchen des Mittelalters. Die Verstümmelungen widerfahren ihnen von allen Seiten, von innen sowohl wie von außen. Der Priester tüncht sie; der Baumeister kratzt an ihnen herum; dann kommt das Volk hinzu, das sie zerstört.
So bleibt auch heute, außer dem fernen Gedenken, das ihm der Verfasser dieses Buches hier weiht, nichts übrig mehr von dem geheimnisvollen, auf dem finsteren Turm von Notre-Dame eingegrabenen Wort — nichts übrig mehr von dem unbekannten Schicksal, das es in so trübsinniger, schwermütiger Weise in sich begreift. Der Mensch, welcher dieses Wort auf die Wand geschrieben hat, ist seit Jahrhunderten aus der Mitte der Geschlechter getilgt — das Wort seinerseits ist von der Wand der Kirche getilgt — die Kirche selbst wird vielleicht bald von der Erde getilgt sein. Das Wort aber war der Anlaß, daß dieses Buch entstand.
Februar 1831
ERSTES KAPITEL
Es sind heute dreihundertachtundvierzig Jahre, sechs Monate und neunzehn Tage her, seitdem die Pariser beim Geläut aller Glocken der Altstadt, Universität und Neustadt erwachten.
Dieser sechste Januar 1482 aber war kein Tag, dessen sich die Geschichte erinnert. Es war nichts Merkwürdiges an dem Ereignis, das auf solche Weise die Glocken und die Bürgerschaft von Paris in früher Morgenstunde in Bewegung setzte. Denn am 6. Januar, der «den ganzen populus von Paris auf die Beine brachte», fand seit undenklicher Zeit die Doppelfeier des Dreikönigstages und des Narrenfestes statt. Es sollten an diesem Tage auf dem Grèveplatz Freudenfeuer, in der Braque-Kapelle die Maibaum-Pflanzung und im Gerichtssaal das Mysterienspiel stattfinden. Der Aufruf war schon am Abend vorher unter Trompetengeschmetter an den Straßenecken verkündet worden.
Die große Masse der Bürger und Bürgersfrauen machte sich darum, während Häuser und Läden geschlossen blieben, aus sämtlichen Gegenden her vom frühen Morgen an auf den Weg nach einem von den drei bezeichneten Plätzen. Das Volk strömte hauptsächlich in die Gänge und Korridore des Justizpalastes, weil es bekannt geworden war, daß die am Vorabend angekommenen vlämischen Gesandten sich vorgenommen hatten, der Aufführung des Mysteriums und der Wahl des Narrenpapstes, die sich gleichfalls in dem Hauptsaal vollziehen sollte, beizuwohnen.
Es war keine leichte Sache, an diesem Tage in den Hauptsaal zu dringen, obgleich er zur damaligen Zeit im Ruf des größten gedeckten Versammlungsraumes stand, den es auf Erden gab.
An den Toren, an den Fenstern, an den Luken, auf den Dächern drängten sich Abertausende von gutmütigen, ruhigen, ehrsamen Bürgersfrauen-Gesichtern, die den Palast und das Gewimmel anguckten und nach nichts anderem verlangten; denn viele Leute in Paris begnügen sich damit, Zuschauer zu sein, und eine Mauer, hinter welcher sich etwas ereignet, ist auch für uns schon eine sehr seltsame Sache. Wenn es uns heutigen Menschen nur möglich werden könnte, in Gedanken uns zu jenen Parisern des fünfzehnten Jahrhunderts zu gesellen und mit ihnen, gezerrt, gedrängt, gestoßen, in jenen gewaltigen und am 6. Januar 1482 doch so engen Gerichtssaal zu treten! Mitten im Saal, der Haupttür gegenüber, gegen die Mauer gestützt, in die man vermittels eines Schiebefensters von der goldenen Kammer her einen besonderen Eingang gefügt hatte, war eine mit Goldbrokat bekleidete Estrade errichtet worden, die für die vlämischen Gesandten und für die übrigen zur Darstellung des Mysteriums geladenen Persönlichkeiten bestimmt war. Auf der Plattform sollte, dem Brauch gemäß, das Schauspiel aufgeführt werden. Sie war seit dem Morgen zu diesem Zweck hergerichtet worden. Ihre reiche Marmortafel, die von den Hacken der prozeßführenden Anwaltschaft ganz zerkratzt und zerfurcht war, trug ein ziemlich hohes Kastengerüst, dessen obere, den Blicken des ganzen Saales zugängliche Fläche als Theater dienen sollte, während das durch Tapeten verhängte Innere den bei dem Schauspiel beschäftigten Personen als Ankleideraum bestimmt war. Eine in harmlosester Weise außen angerückte Leiter hatte den Zweck, die Verbindung zwischen der Schaubühne und dem Ankleidezimmer herzustellen; auf ihren Sprossen mußten Auftritte und Abgänge erfolgen. Jede Erscheinung, und wenn sie noch so unerwartet wirken sollte, jede Lösung oder Schürzung des Knotens, jede Wandlung oder Überraschung mußte auf dem Weg über diese Leiter bewirkt werden.
Vier Büttel des Palastamtmannes standen als obligate Wächter über die Volksvergnügungen an Fest- wie an Hinrichtungstagen kerzengrade an den vier Ecken der Marmortafel. Erst wenn der zwölfte Glockenschlag von der großen Turmuhr am Palast die Mittagszeit verkündete, sollte das Stück seinen Anfang nehmen. Es war dies für eine Theateraufführung zweifelsohne zu spät; aber man mußte sich hinsichtlich der Zeit nach der vlämischen Gesandtschaft richten.
Die ganze Volksmenge wartete nun seit dem Morgen. Eine stattliche Anzahl dieser ehrsamen und neugierigen Philister stand schon seit Tagesanbruch fröstelnd vor der großen Palasttreppe. Die Menge wurde mit jedem Augenblick dichter. Die Enge, die Ungeduld, die Langeweile, die Freiheit eines Rüpelund Narrentags, das Gezänke, das bei jeglichem Anlaß um eines spitzen Ellbogens oder beschlagenen Schuhes willen hervorbrach, die Anstrengung des langen Wartens — dies alles verursachte einen scharfen und bitteren Klang in den Worten des eingesperrten, eingeschachtelten, gedrängten, gezwängten, erstickten Volks. Man hörte nur Klagen und Verwünschungen gegen die Vlämischen, gegen den Obermeister der Kaufmannsgilden, den Kardinal von Bourbon, den Amtmann des Palastes, gegen Margarete von Österreich, gegen die Büttel mit den Stäben, gegen die Kälte, die Hitze, das schlechte Wetter, gegen den Bischof von Paris und gegen den Narrenpapst.
Alles dies diente zur mächtigen Erlustigung der Schülerbanden und Lakaienhaufen, die sich verstreut in dem Hause befanden. Eine Gruppe solch lustiger Teufel hatte sich, nachdem sie die Scheiben eines Fensters eingeschlagen hatte, keck auf das Gesims geschwungen. Von dort aus schossen ihre Blicke und Witzeleien abwechselnd in die Menge im Saal und die Menge auf dem Platz. Aus den Fratzen, die sie schnitten, aus ihrem schallenden Gelächter, aus den höhnischen Zurufen, die sie von einem Saalende zum anderen mit ihren Kameraden wechselten, ließ sich leicht schließen, daß dieses junge Studentenvolk die Langeweile und Beschwerde der übrigen Anwesenden nicht teilte.
«Meiner Seel! Ihr seid’s, Jean Frollo du Moulin?» schrie einer von ihnen einer Art von blondem Teufelchen mit hübscher und boshafter Fratze zu, das am Blattwerk eines Kapitells hing. «Ihr seid fürwahr mit Recht als ‹Mühlenhans› bekannt, denn Eure Arme und Eure Beine sehen aus wie die Windmühlenflügel. Wie lange seid Ihr denn schon hier?»
«Bei Satans Barmherzigkeit!» gab Jean Frollo zur Antwort, «an die vier Stunden sind’s, und ich