Und die Titanic fährt doch. Ulrich LandЧитать онлайн книгу.
Land
Und die Titanic fährt doch
Nordatlantik-Krimi mit Rezepten
Ulrich Land
Und die Titanic fährt doch
Nordatlantik-Krimi mit Rezepten
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© 2011 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des
Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
Alle Rechte vorbehalten
Satz: MV-Verlag
Umschlag: Thorsten Hartmann und Roland Tauber
Rezepte: Ulrich Land
Herstellung: Monsenstein und Vannerdat
ISBN: 978-3-941895-18-8
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
1
Die Tür, wieso scheppert jetzt auf einmal das Türschloss? Was wollen die denn noch von mir? Sollen mich doch schmoren lassen hier unten in dieser verdammten Zelle, zu der sie extra für mich die Ausnüchterungskabine der Krankenstation umfunktioniert haben. Sollen mich doch meinen Gedanken nachhängen lassen, bis wir mit dem angeschlagenen Kahn vor Nova Scotia ankern, in Halifax, Boston, was weiß ich – wenn die überhaupt hinreichend große Liegeplätze zu bieten haben. Oder bis wir direkt in New York gelandet sind.
Aha, der Alte steht auf der Schwelle, ›Master next God‹, welche Ehre!
»Sir?«
Während ich es mit einiger Mühe noch hinbekomme aufzustehn, den Rücken durchzudrücken und den Zeigefinger zur Stirn zu heben, verzichtet Captain Smith mit offenbar auch nicht eben wenig Mühe darauf, meinen Gruß zu erwidern.
»Murdoch, ich muss Sie bitten ...«
»Ja?« Kurze Frage, kleine Chance, es dem Chef nicht ganz so leicht zu machen.
»Ich muss Sie bitten, Ihre Uniformjacke abzulegen und mir auszuhändigen.«
Wortlos ziehe ich die Jacke aus und leg sie ihm über den hingehaltenen Arm. Wortlos winkelt er den Arm enger an und schlüpft mit den Fingern in die Knopfleiste seiner Uniform. Wer war das noch, der alte Fritz oder Napoleon? Jedenfalls eine Geste, die er bei irgendeinem Potentaten geklaut hat. – Nicht zu fassen, dass ich es in dieser ernsten, bitterernsten Situation geregelt kriege, mir so idiotisch belanglose Gedanken zu machen.
Aber noch verblüffender zu hören, wie ich hinter dem abziehenden Captain herrede: »Immerhin hab‘ ich dafür gesorgt, Sir, dass Sie gestern Nacht nicht zum ersten und zum letzten Mal in Ihrer Kapitänslaufbahn den Satz der Sätze vom Stapel lassen mussten: ›Now it‘s every man for himself!‹«
Rette sich, wer kann, geht‘s mir durch den Kopf, als ich Smith nachsehe, der verbissen schweigend hinaus in den Flur tritt und die Nurse von der Krankenstation meine Tür wieder verschließen lässt. In dieser einen Nacht ist er zu einem alten Mann geworden. Was Jahrzehnten seiner an dramatischen Erlebnissen nicht armen Seefahrtskarriere versagt geblieben ist, diese eine Schreckensminute hat es fertiggebracht, ihn niederzuwerfen.
Vielleicht geht es in meinem Schädel selbst in diesem Moment trostloser Erniedrigung deshalb so drunter und drüber, vielleicht quasseln meine Gedanken deshalb wie ein Bilderbuch, statt sich in deprimiertes Schweigen zu hüllen, weil ich mir trotz allem sicher bin, alles richtig gemacht zu haben. Trotz dieses ungeheuren, dieses markerschütternden Schlags. Absolut sicher. Und genauso absolut sicher bin ich mir, dass man mir genau daraus den Strick drehen wird. Eigentlich hätte mir das klar sein müssen. Aber es war mir nicht klar. Weil ich nämlich über die Konsequenzen überhaupt nicht nachgedacht habe. Weil ich nämlich überhaupt nicht gedacht habe.
Weil ich nämlich überhaupt nicht dazu gekommen bin nachzudenken. Weil ich nämlich gehandelt habe. Einfach nur so. Ohne Gedanken. Instinktiv, intuitiv, aber richtig. Absolut richtig.
Dieses Schiff war nur so zu retten.
Ich wusste es in dem Moment nicht, aber ich weiß es jetzt: Mein Manöver war das einzig richtige. Und je mehr diese Gewissheit wächst, wächst die Ungewissheit, ob ich das irgendeinem Außenstehenden werde klarmachen können. Ganz im Gegenteil. Fahrlässige Tötung, man wird mir fahrlässige Tötung in soundso vielen Fällen vorwerfen. Ich weiß es nicht genau, keiner hat mir die genauen Zahlen genannt, drei Dutzend, vier Dutzend Tote und etliche Verletzte. Die Nacht der Nächte. Geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie denn auch?! Schicksalsnacht. Bitterkalt und glasklar. Neumond. Rabenschwarz der Himmel, aber übersät mit winzigen weißen Punkten. Steuerbord schräg voraus vergilbte soeben der lindgrüne, leise schwingende Seidenvorhang eines Nordlichts, bevor er sich endgültig wieder in der Finsternis auflöste, aus der er sich gerade erst vor ein paar Minuten entfaltet hatte. Und plötzlich – plötzlich baute sich dieser schwarze Brocken vor uns auf! Obwohl, eigentlich war er natürlich weiß. Aber nachts sind alle Katzen grau und alle Eisberge schwarz. Zumal dann, wenn sie wie offensichtlich dieser hier schon mal gekentert sind. Von einem Wasserfilm überzogen, spiegelglatt und glasig-blau, sind sie in der Dunkelheit praktisch unsichtbar. Stehen schwarz im schwarzen Wasser vorm schwarzen Himmel. Fallen vor allem dadurch auf, dass man da, wo sie rumdümpeln, die Sterne nicht sieht. Wie ausgestanzt, ein Loch im Sternenhimmel. Genau im Umriss dieses zwanzig, was weiß ich, dreißig Meter hohen Ungetüms. Kommt einem vor, als läge vor uns volle Breitseite ein Windjammer unter Segeln, unter vollen Segeln, unter anthrazitfarbenen Segeln, ein Totenschiff – und würde sich keinen Millimeter vorwärtsbewegen. Denn der Wind schafft es nicht mal, die Segel zu blähen. Das schwere Segelleinen wirft tausend Falten. Und oben in der Mitte läuft der Koloss nadelspitz zu, wirft sich auf zu einem scharf-alpinen Zinken. Fehlt nur das Gipfelkreuz.
Dann der gigantische Knall! Ein kurzes Zittern erfasste den pechschwarzen eisweißen Klotz. Mich überkam eine Höllenangst, das Ding könnte kippen, könnte durch die Kollision mit unserem Vorsteven einen senkrechten Riss abbekommen haben, könnte sich in der Mitte spalten und umklappen. Könnte Hals über Kopf aufs Vordeck schlagen und zerschellen. Aber hielt, die Drecksau. Gott sei Dank. Paar Zähne abgebrochen, aber der Kern hielt zusammen und stand da mit stoisch stupidem Gleichmut. Schien kurz zu überlegen, soll er steuerbord, soll er backbord sich vorbeitrollen an unserm Rumpf. Er entschied sich für Stehnbleiben. Taumelte leicht, aber blieb eisern eisig stehn vor unserer Nase. Erst als die Schrauben endlich packten, die ich auf volle Kraft zurück hatte stellen lassen, als das Schiff langsam, unendlich langsam die zerquetschte Bugspitze vom Eisberg zurückzog und sich vom umgelegten Ruderblatt überzeugen ließ, über Backbord abzudrehen, da schob der Koloss sich gemächlich nach achtern. Längs unserer Steuerbordflanke. Eckte hier und da kurz an, aber schon war er – schwarzblau jetzt, nass und glibberig glitzernd von dem bisschen Licht, das ihm die Lampen des Schiffs hinterherwarfen – verschwunden. Irgendwo. In der Finsternis. Achteraus und auf Nimmerwiedersehn. Ich weiß nicht, fünf Minuten vielleicht, vielleicht hat er sechs, sieben Minuten gebraucht, um bei der geringen Fahrt, die wir jetzt machten, an den zweihundertsiebzig Metern Schiff längs zu ziehn. Eine Hand voll Minuten, dann war er vorbei. Und alles war vorbei.
Und ich wischte mir die Schweißlachen von der Stirn und ließ erst mal die Maschinen stoppen.
Wo, wo mag das verdammte Biest jetzt sein? Was gäb ich drum, seiner habhaft zu werden.