Das Antikrebs-Buch. David Servan-SchreiberЧитать онлайн книгу.
KAPITEL 3
GEFAHR UND CHANCE
Ich werde »Patient«
ALS ICH ERFUHR, dass ich einen Hirntumor hatte, geriet ich über Nacht in eine Welt, die mir zwar bekannt vorkam, von der ich tatsächlich aber kaum etwas wusste: die Welt des Patienten.
Den Neurochirurgen, an den ich sofort überwiesen wurde, kannte ich flüchtig. Wir hatten gemeinsame Patienten, und er interessierte sich für meine Forschungen am Gehirn. Doch nach der Entdeckung meines Tumors veränderten sich unsere Gespräche völlig. Von meinen wissenschaftlichen Experimenten war nicht mehr die Rede. Ich musste mich buchstäblich entblößen, die intimsten Details meines Lebens offenbaren, meine Symptome ausführlich schildern: Wir sprachen über meine Kopfschmerzen, meine Übelkeit, die Möglichkeit epileptischer Anfälle. Meiner beruflichen Attribute beraubt, wurde ich zum gewöhnlichen Patienten. Ich hatte das Gefühl, mir würde der Boden unter den Füßen weggezogen.
Und ich klammerte mich an meinen Status als Mediziner. Zu meinen Arztterminen trug ich meinen weißen Kittel mit dem Schild, das meinen Namen und Titel angab – was ziemlich kläglich gewirkt haben muss. In meinem Krankenhaus legte man Wert auf Hierarchien, und die Schwestern und Pfleger nannten die Ärzte respektvoll »Doktor«. Doch auf der Untersuchungsliege und ohne meinen weißen Kittel wurde ich zu »Mr. Soundso«, oder wurde sogar mit »Honey« angesprochen. Wie alle anderen saß ich im Wartezimmer, das ich als Arzt im Eilschritt durchmessen hatte, mit erhobenem Kopf, jeden Blickkontakt mit Patienten meidend, um nur nicht aufgehalten zu werden. Wie alle anderen wurde ich nun im Rollstuhl ins Untersuchungszimmer geschoben. Was zählte es jetzt, dass ich in der übrigen Zeit durch die Flure eilte? »Das ist nun einmal so üblich«, sagten die Pfleger. Ich fügte mich und ließ mich behandeln wie jemand, dem man nicht einmal mehr zutraute, selbst zu laufen.
Ich geriet in eine graue Welt, in der die Patienten keinen Titel, keine Qualifikation, keinen Beruf hatten. Hier interessierte sich niemand dafür, was man im Leben machte oder was einem durch den Kopf ging. Das einzig Interessante an mir war oft nur die neueste Aufnahme meines Gehirns. Ich musste feststellen, dass die meisten Ärzte nicht wussten, wie sie mich als Patienten und Kollegen in einer Person behandeln sollten. Bei einer Einladung zum Abendessen traf ich zufällig meinen damaligen Onkologen, einen brillanten Spezialisten, den ich sehr schätzte. Er war der Situation offensichtlich nicht gewachsen, stand auf, wurde blass und ging unter einem fadenscheinigen Vorwand. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass es einen Club der Lebenden gab und man mir signalisierte, dass ich nicht mehr Mitglied war. Ich bekam es mit der Angst zu tun; Angst, dass man mich einer anderen Kategorie zuordnete, der Kategorie von Menschen, die sich durch ihre Krankheit definieren. Ich hatte Angst, allmählich unsichtbar zu werden. Angst, nicht mehr richtig zu existieren, obwohl ich noch gar nicht tot war. Vielleicht würde ich bald sterben, aber bis dahin wollte ich mein Leben wie ein ganz normaler Mensch leben.
Einige Tage nach den Scanner-Aufnahmen mit Jonathan und Doug kam mein Bruder Édouard geschäftlich nach Pittsburgh. Ich hatte noch niemandem außer Anna von meiner Krankheit erzählt. Mit einem Kloß im Hals weihte ich Édouard ein, so gut ich konnte. Ich hatte Angst, ihm wehzutun, und fürchtete seltsamerweise, damit das Verhängnis erst recht heraufzubeschwören. Édouards schöne blaue Augen füllten sich mit Tränen, aber er wurde nicht panisch. Er nahm mich einfach in den Arm. Wir weinten zusammen und sprachen dann über Behandlungsmöglichkeiten, Statistiken und das, was mir nun bevorstand. Und dann brachte er mich zum Lachen, wie er es so gut konnte, indem er mich daran erinnerte, dass ich mit kahl rasiertem Kopf doch noch wie ein Punk aussehen würde – damals, mit achtzehn, hatte ich es nicht gewagt … Zumindest für ihn zählte ich noch zu den Lebenden.
Am nächsten Tag gingen Anna, Édouard und ich in der Nähe des Krankenhauses zusammen Mittag essen. Wir verließen das Restaurant in bester Laune, ich lachte so sehr über die alten Geschichten von früher, dass ich mich an einem Laternenpfahl festhalten musste. In dem Augenblick kam Doug über die Straße auf uns zu. Er wirkte düster und verblüfft, und sogar eine Spur Missbilligung lag in seinem Blick. Als ob er mich fragen wollte: Wie kannst du nur lachen, wo du gerade eine so schlechte Nachricht bekommen hast?
Bestürzt begriff ich, dass die meisten Leute es offenbar für falsch hielten, fröhlich zu lachen, wenn man eine schwere Krankheit hat, und mir wurde klar, dass ich für den Rest meines Lebens als ein Mensch gelten würde, der nicht mehr lange zu leben hatte.
Sterben? Unmöglich …
Und dann war da die quälende Frage nach dem Tod. Auf die Diagnose »Krebs« regiert man zunächst oft ungläubig. Wenn wir uns den eigenen Tod vorzustellen versuchen, begehrt unser Verstand auf: als ob der Tod nur andere treffen würde. Tolstoi beschreibt diese Reaktion großartig in Der Tod des Iwan Iljitsch. Wie viele andere erkannte ich mich darin wieder. Iwan Iljitsch ist Richter in Sankt Petersburg und führt ein geregeltes Leben, bis er eines Tages krank wird. Man verheimlicht ihm seinen Zustand, doch schließlich wird ihm klar, dass er dabei ist zu sterben, und alles in ihm sträubt sich gegen diese Erkenntnis. Unmöglich!
In seinem tiefsten Innern wusste Iwan Iljitsch, dass er sterben müsse, allein er wollte sich nicht nur nicht an diesen Gedanken gewöhnen, sondern konnte ihn einfach nicht begreifen. Jenes bekannte Beispiel für Syllogismen, das er in der Logik von Kieswetter gelernt hatte: Cajus ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, also ist auch Cajus sterblich, war ihm sein ganzes Leben hindurch rechtmäßigerweise lediglich als auf Cajus anwendbar vorgekommen, keinesfalls aber auf ihn, Iwan Iljitsch selber. Jenes war der Mensch Cajus, der Mensch überhaupt, und für diesen war das Gesetz völlig gerechtfertigt; er indes war nicht Cajus und ebenso wenig der Mensch an sich, sondern er war ein Wesen völlig für sich und völlig von allen anderen verschieden; er war der Wanja mit seiner Mama und seinem Papa, mit Mitja und Wolodja, mit Spielzeug und einem Kutscher, mit seiner Kinderfrau und späterhin mit Katjenka, kurz, mit allen Freuden, Leiden und Entzückungen der Kinderzeit und Jugend. War denn der Geruch des aus Lederstreifen zusammengesetzten Balles, den Wanja so geliebt hatte, etwa für Cajus bestimmt gewesen? Und hatte Cajus etwa, so wie er, die Hand der Mama geküsst? Und hatte vielleicht für jenen die Seide des Faltenkleides der Mama gerauscht? War es Cajus gewesen, der in der Rechtsschule wegen der Kuchen revoltiert hatte? Cajus, der so verliebt gewesen war wie er? Und verstand etwa Cajus so wie er eine Verhandlung zu leiten? Cajus war in der Tat sterblich, und wenn er starb, so war es ganz in Ordnung; ich dagegen, ich, Wanja, ich, Iwan Iljitsch, mit all meinen Gefühlen und Gedanken – bei mir ist es nun einmal eine ganz andere Sache. Und es kann ja gar nicht sein, dass auch ich sterben muss. Das wäre zu entsetzlich.1
Solange wir nicht ernsthaft krank sind, scheint das Leben unendlich, und wir schieben den Tod gern von uns weg. Wir denken wohl, dass immer noch Zeit ist, das Glück zu suchen. Zuerst muss ich meinen Abschluss machen, meine Schulden abbezahlen, die Kinder großziehen, in Ruhestand gehen … Über Glück mache ich mir später Gedanken. Wenn wir die Suche nach dem Wesentlichen immer auf morgen verschieben, riskieren wir, dass uns das Leben durch die Finger rinnt, ohne dass wir es jemals richtig genossen haben.
Mit geöffneten Augen
Manchmal kuriert uns Krebs von dieser seltsamen Kurzsichtigkeit, dem Zaudern und Zögern. Eine Krebsdiagnose öffnet uns die Augen dafür, wie vergänglich das Leben ist, und kann dem Leben so seinen wahren Reiz zurückgeben. Einige Wochen nach der Diagnose meines Gehirntumors hatte ich das seltsame Gefühl, ein Schleier wäre weggezogen worden, der mir bis dahin die Sicht getrübt hatte. An einem Sonntagnachmittag betrachtete ich Anna in dem kleinen sonnigen Zimmer unseres Häuschens. Sie saß auf dem Boden neben dem Couchtisch, versuchte sich an der Übersetzung französischer Gedichte ins Englische und strahlte Konzentration und Ruhe aus. Zum ersten Mal sah ich sie so, wie sie war, ohne mich zu fragen, ob ich nicht lieber eine andere Frau hätte. Ich sah, wie eine Haarsträhne anmutig nach vorne fiel, wenn Anna den Kopf über das Buch beugte, sah, wie leicht