re:publica Reader 2015 – Sammelband. re:publica GmbHЧитать онлайн книгу.
sind wir immer noch erzählende Affen“, die sich mit ihren Geschichten die Welt einfach und überschaubar machen. Kurzum, die Lüge mache uns das Leben angenehm, mit ihr richteten wir uns in der ansonsten ungemütlichen Welt ein.
Wohlan, aber wo bleibt dann die Wahrheit? Darauf hatte Karig nach seinem furiosen, alle Wahrheitshoffnungen zerschmetternden Auftakt eine eher kleinlaute Antwort parat: Wir müssen uns auf Mindeststandards einigen, die uns einander vertrauen lassen, ein zivilisatorisches Minimum. Eine „Ethik des Teilens und des Mitteilens“ soll die Kontaktlosigkeit des Menschen überwinden – wer Freunde hat, hat keine Angst mehr vor der komplizierten Welt. Und wenigstens eine kleine Hoffnung macht doch, so Karig, dass lange Zeit als verschwörungstheoretischer Mumpitz galt, die NSA überwachte uns total, doch mittlerweile ist es zur allgemein geteilten Gewissheit geworden. Der Wahrheit eine Gasse: Vielleicht einfach mal die Klappe halten und nicht die ständig bewegten Medien-Gezeiten aus Lügen-Hypes und Shitstorms mitmachen? Eine solche, möglicherweise wahrheitsfördernden Zurückhaltung gab jedenfalls die Diskussionsrunde „(Medien-)Ethik in der digitalen Sphäre“ als Ratschlag aus. Der Bild-Blog-Gründer Stefan Niggemeier merkte allerdings an, dass es im notorisch schnellen Internet kaum möglich sei, jeden Sachverhalt auf seine Wahrheit hin zu prüfen, das sei „schlicht nicht die Idee des Internets“. Er verlasse sich auf sein Gefühl, das Bild einer Hinrichtung durch IS-Terroristen würde er jedenfalls nicht im Netz verbreiten. In der Anonymität des Netzes, sei „ethisch-moralische Zuständigkeit“ kaum zu bestimmen, brachte der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen die Diskussion auf den Punkt, aber vielleicht wäre der „Shitstorm auch als Beitrag zur gesellschaftlichen Wertedebatte“ zu sehen. Nun denn... Dann bleiben doch nur wieder die staatlichen Agenturen, Gerichte zum Beispiel, um das Internet „sauber“ zu halten. Irgendwie auch schade.
Menschenrechte
Dem Syrienkrieg ganz nah
Text: Julia Grass @grassgesagt
In Syrien herrscht Krieg, in Guantanamo wird gegen Menschenrechte verstoßen, in den USA ein Immigrant von der Grenzpolizei totgeprügelt. Es sind Schlagzeilen, wie wir sie täglich in den Zeitungen lesen, im Fernsehen sehen, von denen wir im Internet und in den sozialen Netzwerken bombardiert werden. Journalismus ist schnell und überall – doch digital vernetzt zu sein mit der ganzen Welt heißt längst nicht auch näher am Geschehen zu sein. „Der Krieg in Syrien ist weit weg, solange man ihn nicht selbst erlebt hat”, sagt John Pallott. Er ist gemeinsam mit Nonny de la Peña und ihrem Team der Emblematic Group einer der Pioniere auf dem Feld der “virtual reality”. Die “Emblematic Group” kreiert computergenerierte, interaktive Umgebungen, die uns das Geschehen auf der Welt näherbringen sollen.
Konkret funktioniert das durch das Aufsetzen einer Brille, die das Sichtfeld komplett umschließt und in die ein Bildschirm integriert ist, auf den die jeweilige virtuelle Umgebung gespielt wird. Der Brillenträger sieht diese Umgebung, kann sich in ihr bewegen, nach rechts oder links schauen, nach oben oder unten, in komplexen Programmen durch sie hindurchspazieren. Was man von einigen, wenigen Computerspielen bereits kennt, nutzen Pallott und de la Peña für non-fiktionale journalistische Berichterstattung, den sogenannten “immersiven Journalismus”.
In seinem Vortrag über diese Art des Journalismus stellt Pallott verschiedene Projekte vor, welche die “Emblematic Group“ bereits realisiert hat. Wie beispielsweise die Rekonstruktion des Fall des Anastasio Hernandez Rojas, einem mexikanischen Immigranten, der von der US-Grenzpolizei zu Tode geprügelt wurde. Eine Frau filmte die Tat damals mit ihrem Smartphone von einem Balkon. Auf Basis dieses Videos rekonstruierten Pallott und de la Peña eine virtuelle Umgebung. Menschen, denen sie die Brille aufsetzten, befanden sich in der Rolle jener Frau, standen auf dem Balkon, konnten hinunterschauen und die Tat beobachten. Wie sehr sich das Gehirn durch das Computerprogramm täuschen lässt, zeigten die Reaktionen der Brillenträger: viele wurden vorsichtig, wenn sie in der virtuellen Umgebung an die Balkonbrüstung kamen. „In Wirklichkeit aber gab es keinen Balkon, von dem sie hätten herunterfallen können”, sagt Pallott in seinem Vortrag. Ein anderes Szenario versetzt den Brillenträger in die Straßen Aleppos in Syrien. Ein Mädchen singt, dann explodiert eine Bombe, der Rauch hüllt alles ein, Menschen schreien. “Immersiver Journalismus“ vermittelt nicht nur Informationen, sondern hautnah auch Geräusche und Szenerien, die unter die Haut gehen. Viele Menschen, so berichtet Pallot, weinten, wenn sie durch die Brille ganz nah am Geschehen waren – wenn auch nur virtuell.
Zur Erstellung solcher virtueller Realitäten für die journalistische Berichterstattung müssen Aspekte aus Journalismus und Technik verbunden werden. Es müssen Interviews mit Augenzeugen geführt werden, Geräusche nachgeahmt, Videoaufnahmen ausgewertet, Fakten recherchiert und überprüft werden. Dieser “immersive Journalismus” braucht Zeit und Investitionen. Doch es sind Investitionen in die journalistische Zukunft, eine Zukunft, die näher ist, als die meisten denken. Denn noch sind “virtual reality“-Brillen große, klobige Geräte, kaum kompatibel mit dem Alltag. Doch die Entwicklung hin zu leichten, bequemen Brillen ist nur eine Frage der Zeit. Zwei bis drei Jahre gibt Pallott der Entwicklung noch. Dann, so glaubt er, werden die meisten von uns in der breiten Öffentlichkeit solche Brillen besitzen.
Videospiele
The Games They Are a Changin’
Text: Margarethe Gallersdörfer @smandel_8
Sind Videospieler im Kern weiß, heterosexuell und männlich? In ihrem Vortrag „The Games, they are a’changin“, der mehr zum leidenschaftlichen Appell gerät, antwortet Sarah Rudolph: Schon längst nicht mehr. Aber das Bild der weißen Heterojungs, die zwischen Pizzakartons im Keller der Eltern sitzen und zocken, ist mächtig: So mächtig, dass Sarah selber sich lange nicht mit der Videospielkultur identifizieren konnte. Doch die Kultur verändere sich, sagt sie, und damit auch die Bilder, die sie prägen. „Videospiele als Kulturtechnik bilden einerseits Realität ab und andererseits schaffen sie Realität. Wahr ist: Videospiele waren nie männlich, weiß und hetero. Sie wurden immer auch von Frauen, People of Color und LGBTQ gespielt.“
Die Veränderung besteht darin, dass diese Menschen inzwischen nicht nur spielen, sondern auch selbst Spiele entwickeln. Neue Entwickler schaffen neue Games, mit anderen Perspektiven, anderen Anliegen. Wie „Depression Quest“, das dem Spieler zeigt, wie es sich anfühlt, depressiv zu sein; „Papers please“, lässt den Spieler in die Rolle eines Grenzers schlüpfen, oder das hochgelobte „This War of Mine“, das erst vor kurzem in zwei Kategorien des Deutschen Computerpreises abräumte und das die dunkle Seite des Krieges illustriert.
„Yay Veränderung“, kommentiert Sarah diese Entwicklungen -- doch nicht alle sind ihrer Meinung: „Die Social Justice Warriors machen mit ihrer Politik unsere Videospiele kaputt“, so hallt die Klage durch die Foren und Blogs. Aber gab es jemals Videospiele ohne politische Komponente? Die Shooter-Spiele, in denen Gamer gegen russische oder arabische Feinde antreten müssen, gehören sicher nicht dazu. Auch Frauenfiguren in Spielen seien nie unpolitisch, sagt Sarah: „Wie werden Frauen dargestellt? Sind sie handlungsfähig? Haben sie einen eigenen Willen oder sind sie passive Opfer? Kommen sie überhaupt vor?“
Die Frage, die sich tatsächlich stelle, meinte Sarah, sei daher eher: „Wem wird vorgeworfen, dass sie Spiele kaputt machen?“ und verweist auf eine satirische Liste, zusammengestellt von Maya Felix Kramer: http://ask.fm/legobutts/best „Im letzten Jahr haben sich viele Menschen zurückgezogen, weil die Angriffe zu heftig wurden“, sagt Sarah. Sie schließt mit einem Appell, eine Kultur zu leben, die trotz heftiger Angriffe -- der Name “Gamergate” schwebt in der Luft, wird von Sarah aber nicht ausgesprochen -- immer weiter macht. Die Videospielkultur soll den Veränderungsprozess bewahren und fördern, findet Sarah. Und sie solle die Menschen schützen, die nicht männlich, weiß und hetero sind und sich trotzdem an der Entwicklung von Videospielen beteiligen wollen.
Pussy Riot
Sprachbarriere? Lustbarriere?