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Spiel des Zufalls - Joseph Conrad


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      LUNATA

Spiel des Zufalls

      Joseph Conrad

      Spiel des Zufalls

      © 1913 by Joseph Conrad

      Erstmals erschienen 1913 unter dem Titel Chance

      Aus dem Englischen von Ernst Wolfgang Freissler 1913

      © Lunata Berlin 2020

      Inhalt

      1. Jung Powell und sein Glück

      2. Die Fynes und ihre Freundin

      3. Der wirtschaftliche Aufschwung und das Kind

      4. Die Erzieherin

      5. Der Nachmittagstee

      6. Flora

      7. Auf dem Pflaster

      8. Die »Ferndale«

      9. Jung Powell sieht und hört

      10. Treue Diener -- und ein Blinkfeuer

      11. Anthony und Flora

      12. Der große de Barral

      13. Eine mondlose Nacht, der Himmel voller Sterne, tiefes Dunkel über dem Wasser

       Über den Autor

      1

      Jung Powell und sein Glück

      Er muß uns wohl durch das Fenster gesehen haben, als wir in der Jolle des Vierzehn-Tonnen-Kutters, der Marlow, meinem Gastfreund und Schiffsherrn, gehörte, zum Mittagessen fuhren. Wir halfen dem Jungen, den wir bei uns hatten, das Beiboot am Landungssteg festzumachen und gingen dann zu dem Gasthaus am Strand hinauf. Dort fanden wir unseren neuen Bekannten, der in würdiger Einsamkeit sein Mittagmahl am Kopfende eines langen Tisches verzehrte, weiß und unwirtlich wie eine Schneebank.

      Die Röte seines scharf geschnittenen Gesichts mit dem kurzen Backenbart und dem welligen, eisengrauen Haupthaar war der einzige warme Lichtfleck in dem düsteren Raum, der durch das stimmungslose Tischtuch noch kälter wirkte. Wir kannten ihn schon vom Sehen als den Eigentümer eines kleinen Fünf-Tonnen-Kutters, den er offenbar allein segelte; er mochte einer der vielen begeisterten Sportsleute sein, die an der Themsemündung kreuzen. Als er aber zum ersten Male den Kellner scharf als »Steward« anredete, da wußten wir, daß er ein richtiger Seemann war.

      Nun nahm er auch noch Gelegenheit, diesem selben Kellner die Langsamkeit vorzuwerfen, mit der das Essen aufgetragen wurde. Er tat es mit bemerkenswertem Nachdruck und wandte sich dann zu uns.

      »Wenn wir auf See«, sagte er, »so an unsere Arbeit gingen, wie die Leute an Land, hoch und niedrig, an die ihre, dann könnten wir uns nie unser Brot verdienen. Niemand würde uns anheuern, und überdies könnte kein Schiff, das in der wurstigen Art gesegelt würde, je einen Hafen erreichen.«

      Seitdem er das Seefahren aufgegeben, sei er nie aus der Verwunderung darüber herausgekommen, daß die gebildeten Leute nicht viel besser wären als die anderen. Keiner schien richtigen Stolz in seine Arbeit zu setzen: von den Spenglern angefangen, die ja einfach Diebe waren, bis hinauf zu den Zeitungsleuten (diese schien er für besonders gebildet zu halten), die nie und unter keinen Umständen einen zutreffenden Bericht über den geringfügigsten Vorfall geben konnten. Diese allgemeine Minderwertigkeit des »Landvolks«, wie er sich ausdrückte, schrieb er dem Mangel an Verantwortungsgefühl und dem Bewußtsein persönlicher Sicherheit zu.

      »Sie wissen gut,« fuhr er fort, »daß, was immer sie auch tun, diese dichte, kleine Insel niemals kentern oder leckwerden und mit ihren Frauen und Kindern unter ihnen wegsacken wird.«

      Von da an nahm das Gespräch eine besondere Wendung und drehte sich nun ausschließlich um das Leben auf See. Dabei gewann er sofort enge Fühlung mit Marlow, der zu seiner Zeit auch auf See gefahren war. Sie tauschten angeregt Erinnerungen aus, während ich stumm zuhörte, und waren einig darin, daß sie die glücklichste Zeit ihres Lebens als jüngste Offiziere auf guten Schiffen gehabt hatten, ohne andere Sorge auf der Welt als: auf See keine Freiwache zu versäumen und im Hafen keinen Augenblick Zeit und Gelegenheit, um an Land zu kommen. Sie waren auch einer Meinung über den stolzesten Augenblick in diesem Beruf, der nie aus praktischen oder Vernunftgründen ergriffen wird, sondern wegen seines romantischen Beiwerks. Das war der Augenblick, als sie ihre erste Prüfung bestanden und das Seeamt mit dem kostbaren Streifen blauen Papiers in der Hand verlassen hatten.

      »An jenem Tage hätte ich die Königin nicht meine Kusine nennen mögen«, rief unser neuer Bekannter begeistert aus.

      Zu jener Zeit fanden die Seeamtsprüfungen in St. Catherines Dockhouse auf Tower Hill statt, und er unterrichtete uns davon, daß er eine besondere Vorliebe für jene romantische Stätte habe: links die Gärten, rechts die Hauptfront der Münze, weiter ab die elenden, verfallenden Häuser, dann ein Droschkenstand, ein paar Schuhputzer, die am Rand des Bürgersteigs schwatzten, und ein mächtiges Polizistenpaar, das mit überlegenem Ausdruck nach dem Tor der Gastwirtschaft »Zum schwarzen Roß« jenseits der Straße hinübersah. Dies war der Ausschnitt der Welt, sagte er, der sich seinen Augen am schönsten Tage seines Lebens als erster darbot. Er war aus dem Hauptausgang von St. Catherines Dockhouse herausgetreten, als flügger Zweiter Offizier, nach einer bösen Stunde mit Kapitän R..., dem gefürchtetsten der drei Seeamtsprüfer, die damals für die Zulassung von Handelsmarineoffizieren im Hafen von London verantwortlich waren.

      »Wir alle, die vor der Prüfung standen,« sagte er, »zitterten in unseren Schuhen beim bloßen Gedanken, vor ›ihn‹ zu kommen. Mich behielt er anderthalb Stunden in der Folterkammer und tat, als haßte er mich. Er hielt eine Hand über die Augen, ließ sie plötzlich sinken und sagte: ›Das genügt!‹ Bevor ich recht begriffen hatte, was er meinte, schob er mir schon einen blauen Zettel über den Tisch zu. Ich sprang auf, als hätte mein Stuhl Feuer gefangen.

      ›Danke, Herr‹, sagte ich und erwischte den Zettel.

      ›Guten Morgen und viel Glück‹, grunzte er.

      Der alte Türhüter stürzte aus dem Ankleidezimmer heraus, mit meinem Hute in der Hand. Das tun sie immer. Aber er sah mich scharf an, bevor er in schüchternem Flüsterton zu fragen wagte: ›Gut durchgekommen, Herr?‹ Statt jeder Antwort ließ ich ein Goldstück in seine weiche, breite Hand gleiten; und er, mit einem plötzlichen Grinsen von Ohr zu Ohr: ›Nun, ich weiß mich nicht zu erinnern, daß er einen der Herren je so lange zurückbehalten hätte. Zwei Offiziere hat er heute früh schon geworfen, bevor die Reihe an Sie kam. Keine zwanzig Minuten für jeden; das ist so seine Zeit.‹

      Ich fand mich unten an der Treppe, ohne die Stufen gemerkt zu haben, als wäre ich sie hinuntergeschwommen. Der schönste Tag meines Lebens. Der Tag, an dem man sein erstes Kommando bekommt, ist nichts dagegen. Denn erstens einmal ist man dann nicht mehr so jung, und zum zweiten bleibt für unsereinen nachher nicht mehr viel zu erwarten. Ja, ja, der schönste Tag im Leben, ohne Frage. Aber es ist eben auch nur ein Tag und nicht mehr. Was nachher kommt, ist so ziemlich die widerwärtigste Zeit für einen Jungmann. Die Jagd nach einem Offiziersposten, ohne mehr aufweisen zu können


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