Das Gewicht von Schnee. Christian Guay-PoliquinЧитать онлайн книгу.
Christian Guay-Poliquin
Das Gewicht von Schnee
Roman
Aus dem kanadischen Französisch von Sonja Finck und Andreas Jandl
Hoffmann und Campe
Für André B. Thomas
heute Morgen
hat der Tag den Schnee metallisiert
und die Stille freut sich
weiße Striche stürzen zu Boden
nur um dort zu verschwinden
Berge klammern sich
an die Borke der Bäume und lasten
auf dornigen Armen
alles Grün ist verschwunden
alles Blau schimmert opalen
alles Braun und Rot ist
ohne Kontur
hin und wieder
zieht ein Vogel einen schwarzen Strich
durch den beschleunigten Raum
J.-N. Poliquin, Winter 1984
1 Das Labyrinth
Sieh dich um. Dieser Ort ist größer als jedes Menschenleben. Wer versucht zu fliehen, kehrt unweigerlich zurück. Wer glaubt, geradeaus zu laufen, läuft in Wahrheit im Kreis. Hände und Augen finden nirgendwo Halt. Das Vergessen der Außenwelt ist stärker als die Erinnerung. Sieh dich noch mal um. Aus diesem Labyrinth gibt es kein Entkommen. Wohin wir auch schauen, es ist überall. Sieh dich ganz genau um. Kein Ungeheuer, keine hungrige Bestie lauert in seinen Gängen. Doch wir sitzen in der Falle. Entweder wir warten, bis die Tage und Nächte uns den Rest geben. Oder wir bauen uns Flügel und fliegen davon.
Achtunddreissig
Der Schnee beherrscht alles. Er dominiert die Landschaft, erdrückt die Berge. Die Bäume geben nach, krümmen das Rückgrat, neigen sich zu Boden. Nur die hohen Fichten halten stand. Aufrecht und schwarz. Wo sie wachsen, ist das Dorf zu Ende und beginnt der Wald.
Vor meinem Fenster fliegen Vögel hin und her, picken nach Futter, streiten sich. Manchmal legt einer misstrauisch den Kopf schief, beäugt das stille Haus.
Draußen am Fenster dient ein entrindeter, waagerecht angebrachter Zweig als Barometer. Zeigt er nach oben, bleibt es sonnig und trocken; zeigt er nach unten, wird es schneien. Im Moment sind die Wetteraussichten unklar, er steht genau in der Mitte.
Es muss schon spät sein. Der Himmel ist bedeckt, eintönig grau. Die Sonne lässt sich nicht ausmachen. Einzelne Schneeflocken wirbeln durch die Luft, klammern sich an jede Sekunde. Hundert Meter vom Haus entfernt rammt Matthias eine Stange in den Schnee. Sie erinnert an einen Bootsmast. Nur ohne Fähnchen und Segel.
An der Dachtraufe sammeln sich Wassertropfen, rinnen die Eiszapfen herab, bleiben an ihren Spitzen hängen. Wenn die Sonne herauskommt, glänzen die Zapfen wie scharfe Klingen. Hin und wieder bricht einer ab, bohrt sich in den Schnee. Ein Dolchstoß ins unermessliche Weiß. Doch der Schnee ist unbesiegbar. Nicht mehr lang, und er reicht bis zum Fensterbrett. Bis zur Dachkante. Dann werde ich nichts mehr sehen können.
Es ist Winter. Die Tage sind kurz und kalt. Der Schnee zeigt seine Zähne. Die Weite ist geschrumpft.
Neununddreissig
Der Fensterrahmen ist feucht. Das schimmelnde Holz schillert in verschiedenen Farben. Wird es sehr kalt, bilden sich kleine Kristalle, Raureif. Wie Flechten.
Im Ofen knacken die Scheite. Vom Bett aus sehe ich durch den Luftschlitz die Glut. Der Ofen ist alt und schwer. Seine Klappen quietschen. Und dieser bullernde schwarze Koloss bildet den Mittelpunkt unseres Lebens.
Ich bin allein in der Veranda. Alles ist still. Alles ist an seinem Platz. Der Hocker neben der Tür, der Schaukelstuhl, die Küchensachen. Nur auf dem Tisch liegt ein seltsamer Gegenstand, länglich, rund, golden. Heute Morgen war er noch nicht da. Matthias muss nach drüben gegangen sein. Auch wenn ich davon nichts mitbekommen habe.
Der Schmerz gönnt mir keine Pause. Er lässt nicht los, hat mich fest im Griff, füllt mich aus. Um ihn zu ertragen, schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich sitze im Auto. Wenn ich mich konzentriere, höre ich sogar den Motor. Ich sehe die Landschaft vorbeiziehen, starre auf den Punkt, wo Straße und Horizont verschmelzen. Wenn ich dann die Lider öffne, überwältigt mich die Wirklichkeit. Ich bin ans Bett gefesselt, meine Beine in Schienen. Mein Auto ist nur noch ein Schrotthaufen irgendwo unter dem Schnee. Ich bin meinem Schicksal ausgeliefert.
Mein knurrender Magen durchbricht die Stille. Ich habe Hunger. Ich fühle mich schwach, meine Gelenke sind steif. Auf dem Nachttisch die Reste der letzten Mahlzeit, ein paar Krumen Schwarzbrot, ein letzter Schluck öliger Kaffee. Matthias sollte jeden Moment zurückkommen.
Einundvierzig
Die Tür geht auf, ein Schwall kalter Luft dringt herein. Matthias trägt den Arm voller Holz, wirft die Scheite neben den Ofen. Sie prallen gegeneinander, Borkenstücke lösen sich.
Matthias zieht die Jacke aus, geht auf die Knie, schürt mit dem Haken das Feuer. Hinter ihm schmelzen die Spuren seiner Stiefel, rinnen über den leicht abschüssigen Boden.
Kalt ist es nicht, sagt er und streckt die Hände zum Ofen hin, aber feucht. Das geht in die Knochen.
Als die Flammen fauchend an die Ofenwände schlagen, schließt Matthias die Klappe, setzt einen Topf Suppe auf, dreht sich zu mir um. Mit den buschigen Augenbrauen, dem weißen Haar und den Furchen auf der Stirn sieht er aus wie ein verrückter Wissenschaftler.
Ich hab was für dich.
Ich hebe eine Braue. Matthias nimmt den goldenen Gegenstand vom Tisch und hält ihn mir hin. Sein Mund formt ein Lächeln. Der Gegenstand ist schwer und lässt sich ausziehen. An beiden Enden sind Gläser eingesetzt. Ich drehe und wende ihn. Es ist ein Fernrohr. Eines, wie Seeleute es früher hatten, um nach fernen Küsten Ausschau zu halten oder nach feindlichen Schiffen.
Sieh hinaus.
Ich richte mich im Bett auf, ziehe das Teleskoprohr auseinander, halte es mir ans Auge. Plötzlich ist alles ganz nah und gestochen scharf. Als wäre ich draußen vor dem Fenster. Die schwarzen Striche der Vögel am Himmel, die Fußstapfen im Schnee, das verstörend stille Dorf, der Waldrand.
Sieh noch einmal hin.
Eigentlich kenne ich jedes Detail dieser Landschaft. Ich schaue schon so lange aus diesem Fenster. An den Sommer erinnere ich mich wegen des Fiebers und der Medikamente kaum, aber im Herbst sah ich die Landschaft sich allmählich verändern, den Himmel grau werden, die Bäume rötlich leuchten. Ich sah, wie der Frost den Farn fraß, wie das hohe Gras beim kleinsten Windstoß umknickte, wie die ersten Schneeflocken den frostigen Boden bestäubten. Ich sah die Spuren der Tiere, die im ersten Schnee die Umgebung erkundeten. Seitdem hört der Himmel nicht auf, das Land zu begraben. Die Welt steht still. Wartet auf den Frühling.
Von hier gibt es keinen Ausweg. Die Berge zerschneiden den Horizont, der Wald umzingelt uns von allen Seiten, das Weiß sticht ins Auge.
Sieh genauer hin, sagt Matthias.
Ich mustere den Pfahl, den Matthias auf der Lichtung in den Boden getrieben hat. Mir fallen feine Kerben auf.
Eine Messlatte. Damit wir wissen, wie hoch der Schnee ist, sagt er triumphierend.
Durchs Fernrohr sehe ich, dass der Schnee bereits die einundvierzig Zentimeter erreicht hat. Eine Weile betrachte ich die weiße Landschaft, lasse mich dann zurück aufs Bett sinken, schließe die Augen.
Wunderbar, denke ich. Jetzt können wir unsere Misere messen.
Zweiundvierzig