Mr. Smith und das Paradies. Georg von WallwitzЧитать онлайн книгу.
Ökonomen es gewiss komplizierter ausdrücken würden, so würden sie den Kleinsten doch im Wesentlichen beipflichten.
Freudig stand Voltaire mit diesem Begriff des Wohlstands in offenem Gegensatz zu den beiden großen Gruppen von Tugendwächtern seiner Zeit. Auf der einen Seite befanden sich die christlichen Traditionalisten, die weltliche Reichtümer grundsätzlich gering achteten und den wahren Segen im Jenseits erwarteten. Auf der anderen Seite gab es die bürgerlichen Moralisten in calvinistischer Manier, die, etwa in Genf oder den Niederlanden, zwar eine Ader fürs Geldverdienen hatten, den Luxus aber ablehnten. Ihr Ideal war die Römische Republik, deren Untergang ganz offenkundig auf die allgemeine Verweichlichung und die Entfernung von den strengen Sitten der Gründerväter zurückzuführen war. In seinem Gedicht Le Mondain (»Der Weltling«) konstatiert Voltaire hingegen:
Ce temps profane est tout fait pour mes mœurs.
J’aime le luxe, et même la mollesse,
Tous les plaisirs, les arts de toute espèce,
La propreté, le goût, les ornements:
Tout honnête homme a de tels sentiments.2
Er sah den Überfluss als die Mutter der Künste und konnte dem Naturzustand, wie er in dieser Zeit immer wieder romantisierend beschworen wurde, nichts abgewinnen. Er vermutete bei den Menschen im Urzustand nur mangelnde Körperhygiene und schlechte Manieren. »Es mangelte ihnen an Gewerbe und Wohlstand: Ist das Tugend? Es war pure Ignoranz.« Selbstredend wurde auch dieses Gedicht bald verboten.
In Voltaires Weltbild mehrten Kaufleute, Investoren, Spekulanten (oder wie auch immer man die Leute nennen wollte, die mit einem einigermaßen liquiden Kapitalstock umgingen) den Wohlstand des ganzen Volkes, indem sie im Rahmen der Gesetze ihrem wirtschaftlichen Interesse nachgingen und Schiffe bauten, Fabriken organisierten und Handel trieben. Der Luxus der Reichen schaffte den Handwerkern und Dienern das Einkommen. Die Freiheit des Einzelnen, ungehindert von den Privilegien der Aristokraten und der Kirche seinen Geschäften nachzugehen, war es, was die Gesellschaft am Ende weiter brachte. Die Freiheit, reich zu werden, führte zur Steigerung des allgemeinen Wohlstandes und letztlich zum Wachstum der Kultur, der Künste und der Körperhygiene. Materieller Wohlstand und individuelle Freiheit waren die beiden Seiten derselben Münze, sie bedingten einander und bildeten zusammen die Grundlage des kulturellen Fortschritts, dessen Ziel die Süße, la douceur, der Zivilisation war.
Voltaire verfasste keine Politische Ökonomie, wie er überhaupt kein besonders systematischer Kopf war, aber sein politisches Denken trug seit seinem Aufenthalt in England immer das ökonomische Motiv in sich. Dieses Gesellschafts- und Menschenbild senkte er unauslöschlich in das Gedankengut der Aufklärung. Mehr als jeder andere trug er dazu bei, in den Köpfen der Menschen das Paradies durch den irdischen Wohlstand zu ersetzen. Mit ihm wurde die Ökonomie zum Ordnungsprinzip der Gesellschaft. Sie wurde das Mittel, die Fleischtöpfe, jenes neue Ziel der Sehnsucht, wirklich werden zu lassen. Mit der Verbindung von Ökonomie und Politik stieß Voltaire das Tor zum Bürgerlichen Zeitalter auf. Seit die Aufklärung der Ökonomie einen zentralen Ort eingeräumt hatte, konnte der Wohlstand sich entwickeln und zum Zeichen der europäischen Zivilisation werden.
So reißt jeden seine Leidenschaft hin
VERGIL, EKLOGEN II, 65
THEORIE UND PRAXIS DER VERARMUNG
Voltaires Einsichten liegen gut 250 Jahre zurück und sind eigentlich ganz einfach zu verstehen. Schafft die Privilegien und die Willkürherrschaft ab und setzt Verstand und Wissenschaft an ihre Stelle, lasst die Kaufleute in Frieden und Sicherheit wirtschaften, stellt die Tüchtigen über die Faulen, und das Land wird in Wohlstand erblühen. Und tatsächlich brachte die Verbindung von Ökonomie und Politik die Industrielle Revolution hervor, welche, nach einer längeren Elendsstrecke, den allgemeinen Wohlstand deutlich verbesserte. So klingt heute konsensfähig, was damals revolutionär war. Aber der Barock steckt uns noch tief in den Knochen, tiefer, als es die Vernunft wahrhaben möchte, und so sehnt sich der Einzelne nach wie vor nach einer Vorzugsbehandlung. Niemand, der in einer gefestigten Stellung ist, hat gerne Konkurrenz und freien Wettbewerb. Sie bedeuten nur vermehrte Anstrengung und verminderten Gewinn, nichts Schönes.
Die großen Krisen in Europa, den USA und Japan seit der Jahrtausendwende, welche noch in dem stolzen Bewusstsein begangen wurde, das Ende der Geschichte sei zum Greifen nah, haben viel mit lähmenden Partikularinteressen zu tun und sind gewissermaßen ein gelebtes Stück Barock. In jedem Land liegt das Problem etwas anders, aber überall hat es denselben Effekt. Privilegien entstehen ganz natürlich, und wenn sie einmal errichtet sind, wenn die Wenigen sich einmal daran gewöhnt haben, auf Kosten der Vielen zu leben, kostet jede Veränderung so viel Kraft wie eine Revolution. Sie werden schnell Teil einer Kultur, graben sich in die Lebensweise und die Erwartungen ein, denn kaum etwas hat so viel Beharrungsvermögen wie der Glaube an das eigene Erwähltsein. Ein Staat, der nicht Opfer einer Vetternwirtschaft werden möchte, muss daher starke und zentralisierte Institutionen haben, um sich gegen die schlechte Gesellschaft zu wehren. Bei aller Stärke muss er aber auch offen, durchlässig und gut kontrolliert sein, um nicht selbst zur Quelle von Privilegien zu werden. In dieser Balance, die stets neu gefunden werden muss, befinden sich nicht viele Gemeinwesen.
Die Aufklärung hat jedenfalls nicht das Ende der Privilegien gebracht, nirgendwo, allenfalls das Ende der gepuderten Perücken. In jedem Land, in jeder Gesellschaft entstehen jene unverdienten Vergünstigungen, die Voltaire angeprangert hatte. Der Mechanismus funktioniert heute, jenseits der Aufklärung, etwa folgendermaßen: Kleine Gruppen von Leuten, die viel zu gewinnen haben und die einander aus der Szene kennen, schließen sich gerne zusammen, wenn es darum geht, ihren Anteil am Kuchen noch zu vergrößern. Sind es nicht zu viele, verteilt sich die Beute auf eine geringere Anzahl von Mitjägern und für jeden Einzelnen lohnt sich der Einsatz. Man stelle sich etwa die sehr überschaubare Zahl der Firmen in der Private-Equity-Industrie vor, die gerne weniger Steuern zahlen würden. Für die großen Spieler kann das eine Ersparnis im hohen zweistelligen Millionen-Dollar-Bereich bedeuten, und für jeden von ihnen würde sich eine entsprechende Gesetzesänderung bezahlt machen, selbst wenn er die Lobbyarbeit vollständig selbst bezahlen müsste. Für die Gruppe insgesamt lohnt es sich allemal.
Gerne hängen sich dann auch noch die Anwälte dieser Firmen an das Projekt, denn sie wittern die Gelegenheit, ihre Honorare in (ebenfalls von der Steuer zu befreienden) Beteiligungen an den Private-Equity-Investitionen bezahlen zu lassen. So haben ein paar Wenige ein massives Interesse an einer kleinen Änderung des Gesetzes, wonach die Bezahlung der Private-Equity-Manager nicht mehr als Einkommen besteuert wird. Das Thema ist obskur genug, dass es einer breiten Öffentlichkeit verschlossen bleibt, und so finden sich genügend sympathische Abgeordnete, die das Vorhaben bald Gesetz werden lassen. Ans Licht kommt so eine Konstruktion eigentlich nur, wenn ein unvorsichtiges Mitglied der Community sich zu sehr aus dem Fenster lehnt, wie etwa der republikanische Präsidentschaftskandidat des Jahres 2012, Mitt Romney, dessen Steuersatz von 14 % einem allzu großen Teil der arbeitenden Bevölkerung nicht vermittelbar war.
Je größer die Gruppen, desto schwieriger sind sie auf eine Linie zu bringen. Die Hohe Schule ist hier die Gründung von Gewerkschaften. Massen von Menschen zu organisieren ist nicht einfach, weil es keine Golfclubs gibt, in denen sich ganze Belegschaften zu vertrauensbildenden Maßnahmen zurückziehen und diskret auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen können. Und der Gewinn muss auf viele hungrige Mäuler verteilt werden, was für den Einzelnen oft nicht über ein Taschengeld hinaus geht. Jedes einzelne Mitglied riskiert den Verlust des Arbeitsplatzes und damit die Lebensgrundlage der Familie, hat aber auf der anderen Seite allenfalls eine sehr überschaubare Lohnerhöhung zu gewinnen. Viele Arbeiter kamen in der Gründungsphase der Gewerkschaftsbewegung schnell dahinter, dass ihr persönlicher Gewinn in keinem guten Verhältnis zum Risiko stand, und so waren die Streikführer (die sehr viel zu gewinnen hatten) im 19. Jahrhundert ganz wesentlich damit beschäftigt, immer paradiesischere Zustände zu versprechen und, wo es nottat, Streikbrecher mit Knüppeln von der Arbeit abzuhalten. Dem Einzelnen musste sein Interesse auf die eine oder andere Weise verdeutlicht werden.
Ist das Privileg erst einmal unter Dach und Fach, sehen die Insider zu, dass möglichst Wenige etwas davon haben. Es