Descartes. Eine Einführung. Hans PoserЧитать онлайн книгу.
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Hans Poser
Descartes
Eine Einführung
Reclam
2., durchgesehene und ergänzte Ausgabe
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Coverabbildung: Portrait René Descartes von Frans Hals
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961816-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019697-7
[7]1 Empirismus und Rationalismus
René Descartes (1596–1650) wird als Begründer der Philosophie der Neuzeit und eines tiefgreifend veränderten Verständnisses der Wissenschaften gesehen, kurz: als Beginn der Moderne. Um das zu verdeutlichen, gilt es, etwas früher einzusetzen und ein entsprechend breites Feld abzustecken. Mit der Renaissance tritt in der Sicht auf die Welt ein Umbruch ein: Der geschlossene mittelalterliche Kosmos wird gesprengt – und dies nicht nur durch einen Rückgriff auf die Antike und deren Wiedergeburt, wie die Bezeichnung Renaissance verheißt, sondern durch Öffnung ganz neuer Horizonte. Hierzu gehört an erster Stelle das ungeheure Selbstbewusstsein, mit dem der Mensch der Renaissance auftritt, und zwar im Doppelsinn des Wortes, nämlich sowohl im Bewusstsein des eigenen Wertes als auch im Bewusstsein der Reflexion auf sich selbst. Dieses Selbstbewusstsein findet seinen Niederschlag in all jenen künstlerischen und literarischen Leistungen, die, ausgehend vor allem von Florenz, Europa erobern sollten. Zum ersten Mal in der Geschichte wird die Einzigartigkeit und Singularität des Individuums, seine Individualität, seine Unverwechselbarkeit, Selbständigkeit und Selbsttätigkeit zu einer zentralen Denkfigur.
Daneben ist eine andere, gänzlich neuartige Entwicklung zu nennen, wie sie uns in den sich entfaltenden Wissenschaften begegnet. Sie bezieht sich anfangs nur bedingt, dann aber zunehmend stärker auf die Erfahrungswissenschaften, allen voran auf die Medizin. Zunächst vorsichtig, stellen die erwachenden Wissenschaften ihre Einsichten im Sinne der Lehre von der doppelten Wahrheit als ein [8]gegenüber den Glaubenswahrheiten weniger wertvolles, bloß menschliches Wissen dar, das in solcher Gestalt nicht mit der Theologie in Konflikt gerät. In wachsendem Selbstbewusstsein schleudern sie schließlich der Inquisition mit Giordano Bruno (1548–1600) im Jahre 1600 ein »Und sie bewegt sich doch!« entgegen in der Überzeugung, dass die Autorität der alten Autoritäten endgültig zerbrochen sei. Jene Aussage bedeutete nicht bloß, für eine andere Auffassung der Relativbewegung von Erde und Sonne einzutreten, sondern der Erde die Bedeutung zu nehmen, das Zentrum des gottgeschaffenen Kosmos zu sein, um das sich alles dreht – nicht nur im kinematischen Sinne.
Dieser Umbruch, den der Humanismus, den die Philosophie der Renaissance einleitete, mag heute meist nicht mehr so schroff gezeichnet werden, wie dies eben geschah; entscheidend bleibt jedoch, dass der Umbruch an der Schwelle zum 17. Jahrhundert vollzogen ist. Es fehlte hingegen eine Perspektive, eine Sichtweise, welche die neuen Elemente zu einem neuen Weltbild zusammenzuführen vermochte. Dieses hatte der Subjektivität des Individuums ebenso Rechnung zu tragen wie den Wissenschaften einen zentralen Platz einzuräumen. Es konnte sich nicht mehr auf die auctoritas von Lehrmeinungen stützen; es bedurfte einer veränderten Berufungsinstanz und damit auch einer anderen Methode zur Entwicklung des gesuchten Weltbildes.
Worin aber sollte das Fundament bestehen? So stehen Zweifel und Skepsis am Anfang, und – da man sich ja auf andere, also auf Autoritäten gerade nicht stützen wollte – zugleich die Notwendigkeit, diesen Neuaufbau beim Individuum, beim erkennenden Subjekt einsetzen zu lassen [9](das damit dem Erkenntnisobjekt als etwas grundsätzlich anderes gegenübertritt). Da dies im Übrigen zugleich mit der kopernikanischen Theorie, die die Sonne in das Zentrum des Universums steckt und die Erde an den Rand drängt, zum drängenden Problem wird, ergibt sich eine große Spannung: Während das anthropomorphe Weltbild des Mittelalters (der Mensch ist das Maß aller Dinge) zerbricht und die Erde als einer von vielen Planeten an einen peripheren Platz des Universums rückt, soll das erkennende Individuum so sehr im Zentrum stehen, dass alle Erkenntnis in ihm wurzelt.
Wie lässt sich diese Aufgabe lösen, was vermag diese einander zuwiderlaufenden Grundforderungen nach allgemeinsten, von allem Individuellen unabhängigen Naturgesetzen auf der einen Seite und der Betonung des Individuums und seiner Erkenntnisleistung auf der anderen Seite zusammenzubringen? Zwei Ansätze sind es, die sich mit Nachdruck anbieten, das Problem zu bewältigen, der des Empirismus und der des Rationalismus. Diese Bezeichnungen selbst sind viel jüngeren Datums, wenngleich sich beide Positionen in der Geistesgeschichte zurückverfolgen lassen, die eine bis zu Aristoteles (384–322 v. Chr.) und seiner Hinwendung zum Erfahrungswissen, die andere bis zu Platon (um 428–347 v. Chr.), der auf das Allgemeine abzielte; doch mit einer solchen Rückwendung zur Antike würde man das Anliegen verfehlen, das Empirismus und Rationalismus eint: Beide suchen in skeptischer Absicht eine vom Individuum ausgehende Sicherung und Begründung aller Erkenntnisse – aller, nicht nur der Erfahrungswissenschaften und der Mathematik, sondern auch der Ethik als Begründung der Regeln menschlichen Handelns.
[10]Von ›Rationalismus‹ und ›Empirismus‹ schematisierend zu sprechen, wie dies hier geschieht, mag in gewisser Hinsicht leichtfertig erscheinen – handelt es sich doch um Begriffsbildungen des 19. Jahrhunderts, die einer Systematisierung der Philosophiegeschichte dienen sollten und die doch die Vielschichtigkeit der Wechselbeziehungen zwischen beiden Seiten übergeht. Zur groben Orientierung bleibt die Unterscheidung dennoch hilfreich, weil sie wichtige Grundzüge gut zu verdeutlichen vermag. So verstanden, sind beide Ansätze gegeneinander abzugrenzen. In der Philosophiegeschichte pflegt man auf Namen zurückzugreifen; danach zählen als Empiristen vor allem Francis Bacon (1561–1621), Thomas Hobbes (1588–1679), John Locke (1632–1704), George Berkeley (1685–1753) und David Hume (1711–1776). Ihnen stehen die Rationalisten René Descartes, Nicolas Malebranche (1638–1715), Arnold Geulincx (1624–1669), Baruch de Spinoza (1632–1677), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Christian Wolff (1679–1754) gegenüber, um nur die wichtigsten zu nennen.
Doch Namen sagen nicht viel. Hilfreicher ist eine allgemeine Kennzeichnung und Gegenüberstellung. Gemeinsam ist beiden Strömungen das Bemühen um eine Fundierung der Erkenntnis, beide wollen deshalb in skeptischer Absicht alle Inhalte unseres Denkens durchmustern und auf eine neue, solide Grundlage stellen. In Bezug auf die Sicherheit und Unverbrüchlichkeit eben dieser Grundlage trennen sich aber deren Wege.
Die Empiristen sehen die Grundlage im Erfahrungsgegebenen, während die Rationalisten sie in der Vernunft erblicken. Wir müssen dies richtig verstehen: Kein Empirist [11]meint, auf Vernunft verzichten zu können; aber er sieht in ihr nur ein Werkzeug, nicht jedoch die Grundlage, von der aus der neue, sichere Aufbau der Erkenntnis zu erfolgen habe, denn, so argumentiert Locke, nichts kann im Verstand sein, was nicht zuvor in den Sinnen war.
Der Rationalist hingegen wird die Notwendigkeit, Erfahrungen zu machen, nicht leugnen; aber, so wird er argumentieren: Ohne den Filter des Verstandes, ohne dessen Vermögen, dieses Material kritisch zu prüfen und aufeinander zu beziehen, wäre Erfahrungserkenntnis gar nicht möglich. Das Primäre ist für ihn also die Vernunft – und die besteht nicht nur in einem logisch-kombinatorischen Verstand, sondern aus Inhalten, die zumindest dispositionell, also als Veranlagung, angelegt sein müssen, um Erkenntnis gewinnen und begründen zu können. Die Sicherheit und die sicheren Grundaussagen stammen allein aus der Vernunft!
Nun mag es scheinen, als suchten zwar beide Richtungen, der kontinentale Rationalismus und der englische Empirismus, die Begründung an verschiedener Stelle, doch seien sie deshalb methodisch – zumindest zunächst – nicht wesentlich voneinander verschieden: Denn beide sind gezwungen, all das, was wir in unserem Denken an Vorstellungen, Begriffen, Ideen und Theorien vorfinden, zu analysieren, um die