Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain. Alex LépicЧитать онлайн книгу.
Alex Lépic
Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain
Sein zweiter Fall
Kampa
Pour Notre-Dame, la cathédrale éternelle
Die perfekte Kruste
1
Lacroix stapfte wütend durch den Nieselregen, der auf die wenigen Passanten fiel, die durch die schmale Rue de Seine eilten. Herrgott, was für ein Wetter! Wäre er doch nur gleich vor dem Kommissariat in den Bus gestiegen. Den Mantelkragen hatte er hochgeschlagen, doch weder die weiche Baumwolle noch der große Hut konnten ihn vor den Tropfen schützen, die inzwischen beinahe waagerecht durch die Häuserschlucht peitschten. Das Pflaster des schmalen Gehsteigs glänzte nass, Lacroix setzte seine Schritte sehr vorsichtig, die Sohlen seiner Übergangsschuhe rutschten auf den nassen Steinen.
Nur noch schnell in der Boulangerie vorbei. Auf den Spaziergang nach Hause würde er verzichten und stattdessen den 63er-Bus nehmen, der ihn trockenen Fußes in die Rue Cler bringt. Er hatte Dominique versprochen, auf dem Weg vom Kommissariat noch kurz hier vorbeizugehen. Sie luden nur selten Gäste zum dîner ein. Normalerweise gingen sie mit Bekannten auswärts essen, doch heute Abend waren alte Freunde aus Giverny in der Stadt, die sie ewig nicht gesehen hatten. Dominique hatte sich einen Abend in intimer Atmosphäre gewünscht und die Ballandrauds zu ihnen nach Hause eingeladen. Auch kulinarisch sollte es etwas ganz Besonderes sein.
In der Rue de Seine reihte sich eine Galerie neben die nächste, Lacroix’ Blick blieb an den regennassen Schaufenstern hängen: Es gab alte Bilder mit Engeln und Heiligen und moderne mit wilden Punkten und Strichen, die er nicht verstand. Das hier war die bedeutendste Kunstmeile von Paris – sein Ziel aber war ein anderes.
Er sah den kleinen Laden schon von Weitem: die blau lackierte Holzfassade, den goldenen Schriftzug in alten Lettern – Boulangerie Lefèvre – und die lange Schlange vor der Tür, trotz des scheußlichen Wetters. Der Commissaire schnaubte.
Er stellte sich an, hinter eine beleibte kleine Frau mit vollen Einkaufstüten. Die Kunden standen dicht an dicht und drängten sich gegen das Schaufenster, versuchten vergebens, sich gegen den Regen zu schützen. Wie die Pinguine, dachte Lacroix.
Langsam rückte er auf, die Auslage geriet in sein Blickfeld, Tropfen rannen an der beschlagenen Scheibe herab. Dahinter konnte er die kleinen runden Quiches mit Lauch und Zwiebeln erahnen, eine Etage höher die millefeuilles und die glänzenden éclairs, und im Kühlschrank standen mehrere große tartes au citron und tartes au chocolat.
Die Damen hinter dem Tresen arbeiteten schnell, dennoch dauerte es sicher weitere fünf Minuten, bis Lacroix an der Eingangstür angelangt war. Hier klebte in einem goldenen Lorbeerkranz der Grund für den Andrang, der seit einem Jahr in der kleinen Boulangerie herrschte:
Grand prix de la baguette de tradition française de la ville de Paris stand da – das beste Baguette der ganzen Stadt.
Dieses und kein anderes Backwerk wollte Dominique ihren Gästen zum Dessert reichen, zusammen mit dem besten Käse aus der fromagerie Capitaine in ihrer Straße.
»Bonjour«, murmelte Lacroix, als er eintrat, nachdem er die rauchende Pfeife draußen an der Hauswand ausgeklopft hatte. Er nahm den Hut vom Kopf und schüttelte die Tropfen ab. Drei Kunden waren noch vor ihm.
Eine der Damen hinter dem Tresen, eine junge Blonde, betrachtete ihn einen Moment zu lange, sagte aber nichts. Vielleicht kannte sie sein Gesicht aus der Zeitung. Ihm passierte es immer wieder, dass die Menschen ihn erkannten, wenn sie auch nicht immer einordnen konnten, woher. Lacroix war freundlich zu allen, ob er sie kannte oder nicht, auch wenn er am liebsten völlig unbehelligt durch seine Stadt streifen würde.
»Monsieur, was kann ich für Sie tun?«
»Ich hätte gern zwei tradi, Madame, s’il vous plaît.«
Sie drehte sich um und packte zwei der wenigen übrig gebliebenen Baguettes aus einem Korb auf dem Boden in eine große Tüte.
»Haben Sie sonst noch einen Wunsch, Monsieur le Commissaire?«
Lacroix schluckte, fasste sich aber gleich wieder.
»Bitte packen Sie mir noch vier Paris-Brest ein. Das wäre dann alles.«
Die Verkäuferin öffnete eine Pappschachtel, auch darauf prangte das Logo der Boulangerie in goldenen Lettern. Vorsichtig nahm sie das fragile Gebäck und legte es in den Karton. Dominique hatte Lacroix die Entscheidung überlassen, welches Dessert auf den Käse folgen sollte, und er hatte sich für die Törtchen entschieden, die er so liebte: den knusprigen Teig, die nussige Buttercreme, den sattweißen Puderzucker. Genau das Richtige nach dem leichten Hauptgang, den seine Frau gerade zauberte. Es sollte Fisch und Risotto geben. Sicher würde sie die Schachtel öffnen und eine Augenbraue hochziehen, wie sie es gern tat – als Hinweis auf seine zunehmende Körperfülle. Aber es war ein liebevolles Necken.
Die Verkäuferin reichte ihm alles über die Theke.
»Dann sind es heute 16 Euro, Monsieur.«
»Vielen Dank, Madame. Und Ihnen gleich einen schönen Feierabend. Heute war ja sicher mal wieder ein anstrengender Tag.«
»Die Pariser lieben nun mal unsere Baguettes«, sagte sie lachend. »Aber mal sehen, wie es morgen aussieht …«
Lacroix stutzte und sah sie fragend an.
»Heute ist doch die Wahl des besten Baguettes der Stadt! Ein Jahr ist es schon her … In einer Stunde steht das Ergebnis fest – und dann zieht die Karawane weiter, zu einem anderen Bäcker.«
Lacroix lächelte sanft. Er kannte diesen Wettbewerb natürlich – wie jeder, der schon lange in Paris lebte. Der Commissaire wusste, dass die Franzosen Auszeichnungen dieser Art liebten, vor allem, wenn sie sich um Speisen drehten, das französische Kulturgut schlechthin. Das beste Baguette, der beste Schinken, die beste Auster, das beste Steak.
»Zumindest die Kunden aus dem Quartier werden Ihnen treu bleiben, und das ist ja das Wichtigste. Und wir auch!« Dominique und er waren hier schon Kunden gewesen, bevor Lefèvres Baguette zum besten der Stadt gekürt wurde. Nach dem Sieg hatte Lacroix nicht selten in der Schlange vor dem Laden warten müssen und sich geärgert, auch wenn er dem Bäcker den Erfolg natürlich gönnte. »Bonne soirée«, rief er der Verkäuferin zu.
»Ihnen auch, Commissaire.«
Mit seiner Tüte verließ Lacroix den Laden, die Abendsonne lugte jetzt sanft hinter den dicken Wolken hervor. Weiter hinten über dem Institut Catholique deutete sich ein Regenbogen an.
»Verflixter April«, Lacroix schüttelte den Kopf und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
2
Es roch nach Hefe und Mehl in dem großen Raum. Die Fenster waren geschlossen, und es war ein wenig stickig. Dennoch hörte er den Verkehr vom Voie Georges Pompidou am anderen Ufer, und sogar die Wellen, die von den Ausflugsbooten an den Quai d’Anjou gespült wurden. Abgesehen davon war es totenstill. Man könnte sprichwörtlich eine Stecknadel fallen hören, so konzentriert waren sie alle bei der Sache, so leise begutachteten sie die Ausstellungsstücke, die von einer Banderole mit einer Nummer umschlossen waren und nebeneinander auf langen Tischen lagen.
Der Tag hatte früh begonnen. 247 Baguettes waren angeliefert worden, von Boulangerien aus allen 20 Arrondissements. Bis zum Mittag waren sie vermessen und gewogen worden: Die Baguettes mussten zwischen 55 und 70 cm lang und zwischen 250 und 300 g schwer sein, so sahen es die Teilnahmebedingungen vor. Nur 173 hatten es in die zweite Runde geschafft. Er hatte seine Baguettes genormt, sie lagen genau in der Mitte: 62 cm lang, 275 g schwer. Er wollte nichts dem Zufall überlassen.
Seit fünfeinhalb Stunden waren sie nun in dem großen Saal der Bäckerinnung. Er wunderte sich immer wieder, wie groß die Räumlichkeiten waren, in denen die Syndikalisten logierten, am hinteren – und teuren – Ende der Île Saint-Louis, finanziert von seinen Mitgliedsbeiträgen.
Nach der ersten Verkostung waren 50 Baguettes weitergekommen, nun waren es