Heinrich Mann: Zwischen den Rassen. Heinrich MannЧитать онлайн книгу.
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Klappentext
Der heute irritierende, aber von Heinrich Mann wertfrei verstandene Titel ›Zwischen den Rassen‹ bezeichnet den Entwicklungsroman einer in Rio geborenen jungen Deutsch-Brasilianerin, die von ihrem Vater zur Ausbildung in ein Internat in die deutsche Provinz gebracht wird und von nun an zwischen zwei Welten lebt. Während des Heranwachsens und als junge Frau reflektiert sie ihre Rolle in der Gesellschaft und erlebt in ihren Beziehungen zu Männern, dass manche Zuschreibungen von Mentalitäten zu Nationalitäten nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Hin und her geworfen zwischen »langweiligen, soliden Deutschen« und dem Florentiner Lebemann Graf Pardi, entscheidet sich die sinnliche, zwar blonde, doch ›exotische‹ Frau für Leidenschaft statt Nüchternheit. Doch die Ehe verläuft unglücklich und die Geschichte nimmt eine Wendung ...
Thomas Mann schrieb seinem Bruder: »... bei aller Strenge seiner Schönheit hat dieses Buch (...) etwas Weiches, Menschliches, Hingegebenes, das mich ganze Abschnitte lang in einer unwiderstehlichen Rührung festgehalten hat.« – Der Roman ist eine Empfehlung für alle Freunde von feinsinniger Sprache und großartiger Literatur. © Redaktion eClassica, 2021
Über den Autor: Luiz Heinrich Mann (1871–1950) war ein deutscher Schriftsteller und der ältere Bruder von Thomas Mann, der durch seine Großromane ›Die Buddenbrooks‹ und ›Der Zauberberg‹ berühmt wurde. Im Gegensatz zu seinem Bruder war Heinrich politischer, mit einer eher journalistischen Herangehensweise an seine Themen. Neben Romanen schrieb er auch viele politische und kulturkritische Essays. ›Der Untertan‹ und ›Professor Unrat‹ sind seine Meisterwerke.
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ZWISCHEN DEN RASSEN
Erster Teil
I
Die Schwarzen, die das Pferd am Zaum geführt hatten, mussten ihre Herrin auffangen: ihr ward schwach; – und dann lag sie in Farren versteckt; ein Palmenblatt ward bewegt über ihrem dunkeln Scheitel; der große, hellhaarige Mann beugte sich zu seiner bleichen Gefährtin; und das Kind kam zur Welt. Die Bäume des Urwaldes standen starr und übermächtig daneben. Dorther, wo er sich lichtete, kam das Schlagen des Ozeans, und von drüben, aus der Finsternis, das wilde Geschrei der Papageien und der Brüllaffen.
Das Kind lernte sprechen von seiner schwarzen Amme und laufen auf dem Sand zwischen Wald und Meer. Vom Rande des Meeres holte es Muscheln, die es von großen Steinen löste; und am Waldsaum erntete es abgefallene Kokosnüsse: daraus zogen ihm die Diener mit glühenden Spießen die süße Milch. Große, zuckerige Früchte hingen überall bei seinen Händchen; im Garten ertrank es in Blumen; und als goldene Funken schossen Kolibris um seinen Kopf.
Dann ward Brüderchen Nene groß genug, dass sich mit ihm spielen ließ. Man suchte zwischen Mauerritzen nach den winzigen runden Eidechseneiern und den Natterneiern, rund und weich. Vom Schwanz des Gürteltieres brachten einem die Neger die kleinsten Ringe: damit schmückte Nene der Schwester und sich selbst alle Finger; und dann fuhr man in einem Zuber den Bach hinab, und die schwarzen Kurubus1 auf ihren Büschen sahen einem, über ihre feuerroten Krummschnäbel hinweg, hoheitsvoll nach.
Und man erlebte in der Hauptstadt den Tropenregen: in den Straßen fuhren Kanus, und unablässig mussten die Schwarzen mit Schaufeln das Wasser aus den Zimmern stoßen; – und den Karneval! An der Jalousietür saß man auf einem Stühlchen, über dem Gewimmel der Masken, und die schöne Mama warf Wachsbälle hinab: die platzten und tränkten die bunten Trachten mit flüssigem Duft. Aber aus einer Muschel, die ein ganz roter Mann an den Mund setzte, fuhr ein so schrecklicher Ton, dass man ihn nicht ertragen konnte, sondern sich mit seinem Stuhl zurückwarf und auch Nene mit umriss.
Und auf der Großen Insel – das Haus der Großeltern schwamm im Duft der Orangenblüten – sog man inmitten eines Heeres erntender Neger an einem Stückchen Zuckerrohr. Und zitternden, schreienden Laufes kam man von einer Begegnung mit der Boa heim! Und schaute, mit allen schwarzen, gelben und weißen Kindern der Pflanzung, erregten Auges und jubelnd zu, wie der Großvater viele Papierröllchen anzündete und sie in weiten, leuchtenden und zischenden Bögen über das Meer schoss. Das Meer schob einem lange, laue Schlangen über die bloßen Füßchen; im Hemdchen, das ein Gürtel enger schloss, fing sich ein Stoß warmen Nachtwindes; und hob man den Blick, schwindelte es einem, so voll war er auf einmal von Sternen!
Es war herrlich: man war wie alle andern Kinder – und doch nicht ganz so. Vornehmer war man. Man hatte blondes Haar; nicht einmal Nene hatte es; und die schwarze Anna war sehr stolz darauf und konnte nicht genug Locken daraus wickeln. Man hatte auch einen blonden Papa: wer hatte den noch? Und kam er zu Besuch auf die Insel der Großeltern, und ging man an seiner Hand umher: viel größer war er als alle Menschen und immer ernst, – und sah man alle ihn bewundern, dann durchrann einen selbst ein Schauer von stolzer und ehrfürchtiger Liebe.
Da aber – was bedeutete dies? – saß eines nachmittags im Saal, wo Großmutter klöppelte, Mama, die schöne Mama und weinte: ja, weinte laut. Kaum aber hatte sie ihr kleines Mädchen erblickt, stürzte sie darauf los, riss es an sich, fiel vor ihm auf die Knie, rief und rang das Schluchzen nieder:
»Lola! Meine Lola! Sag: bist du nicht mein?«
Mit einem Finger vor den Lippen, erschrocken fragend sah das Kind nach der Großmutter: die saß da, grade und streng wie immer, und klöppelte.
»Bist du nicht mein?« flehte die Mutter.
»Ja, Mai2.«
»Man will dich mir wegnehmen. Sag’, dass du nicht willst! Hörst du? Du willst doch nicht fort von mir, von uns allen?«
»Nein, Mai. O Gott! Wohin soll ich? Ich will dableiben: bei Pai3, bei dir, bei Anna! Die Luiziana hat mir ein kleines Kanu versprochen; morgen bringt sie es!«
Aber schon am Abend wartete auf die kleine Lola ein großes Kanu. Die schöne Mai lag in einer Ohnmacht; Nene hing schreiend an Lolas Kleid; – aber ein Schwarzer machte sie los, trug sie, und die Ärmchen der Geängsteten würgten ihn, ans Wasser, setzte vorsichtig seinen nackten Fuß von einem der großen überfluteten Steine auf den nächsten ... Das Meer brandete wütend; zerrissene Finsternis flatterte umher; und manchmal warf ein Stern ein böses Auge herein. Nun ward das Kind ins Boot gelegt; es hatte nicht geschrien, es weinte unhörbar im Finstern; die Schwarzen ruderten schweigend; und das Kielwasser leuchtete fahl, als sei es die Spur eines Verbrechens.
II
An Bord des großen Dampfschiffes, auf das Lola gebracht ward, standen Pai und die schwarze Anna. Welch Wiedersehen! Dann:
»Pai, ist es wahr, dass wir ganz wegfahren? Und Mai? Und Nene? Und wohin fahren wir denn?«
Herr Gustav Gabriel fuhr mit seiner kleinen Tochter nach Hause, weil sie eine Deutsche werden sollte.
Mit neunzehn Jahren war er herübergekommen und hatte sich begeistert eingelebt. Bis zu seinem dreißigsten Jahre berührte ihn niemals Sehnsucht nach seinem Vaterland. Er dachte seiner wie an etwas Kleinliches und Bedrücktes; machte ihm auf einer Europareise einen spöttischen Besuch; fühlte sich mit Stolz als Brasilianer ... Eines Tages bekam er zu spüren, dass er’s nicht sei. Er hatte geschäftliche Einbußen erlitten: was zu Demütigungen führte von Seiten seiner Freunde und der Familie seiner Frau. Er sah sich plötzlich allein und ihm gegenüber eine ganze Rasse, deren für immer unzugängliche Fremdheit er auf einmal begriff. Nun fing er an, auf das Land seiner Herkunft als auf eine Macht zu pochen, sich selbst als Erzeugnis einer Kultur zu fühlen, von deren Höhe seine Umgebung nichts ahnte. Bei der Umschau nach Bundesgenossen begegnete er den Blicken seiner Kinder. Auch diese sollten in Sitten und Sprache eines niedrigeren Volkes erwachsen? Seine Feinde werden? Die Laute, die ihm in herzlichen Stunden kamen, die er von seiner Mutter erlernt hatte, sie sollten sie nie verstehen?