Rue du Pardon. Mahi BinebineЧитать онлайн книгу.
Mahi Binebine
Rue du Pardon
Roman
Aus dem Französischen von Christiane Kayser
Der Autor
Mahi Binebine, geboren 1959 in Marrakesch (Marokko). Studium der Mathematik in Paris. Lehrer. Hinwendung zur Literatur und Malerei. Heute gilt er als bekanntester Maler Marokkos, seine Bilder hängen u.a. im New Yorker Guggenheim-Museum. Sein umfangreiches schriftstellerisches Werk wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und u.a. mit dem Prix de l’Amitié Franco-Arabe ausgezeichnet. Nach Jahren in Frankreich und den USA lebt Mahi Binebine seit 2002 wieder in Marrakesch. www.mahibinebine.com.
Die Übersetzerin
Christiane Kayser, geboren 1954 in Esch-sur-Alzette, Luxemburg, übersetzt aus dem Französischen, u. a. Tahar Ben Jelloun, Jean Vautrin, Tonino Benacquista, Boualem Sansal und Fouad Laroui. Sie lebt teils in Berlin und teils in einem Dorf südlich von Toulouse. Sie engagiert sich ausserdem seit vielen Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit in verschiedenen Ländern Afrikas. Mitgründung des Pole Institute in Goma, D. R. Kongo, Begleitung der Afrikaarbeit des Zivilen Friedensdienstes beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), später Brot für die Welt. Sie ist Mitherausgeberin des Mapinduzi Journal und der Reihe Building Peace / Construire la Paix.
Titel der französischen Originalausgabe:
Rue du Pardon
Copyright © 2019 by Editions Stock
E-Book-Ausgabe 2021
Copyright © der deutschen Übersetzung
2021 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Coverfoto: Gabriel Boisdron
eISBN 978 3 85787 987 6
Für Abdellah, der zu früh von uns gegangen ist
Inhalt
1
Mit meiner Dreikäsehöhe balancierte ich auf einem wackligen Hocker vor dem Spiegel im Bad und erhaschte einen Blick auf den Anflug von Augenbrauen, den oberen Teil meiner Stirn und den Gummi, der meine widerspenstigen Locken bändigte. Ausserhalb meines Sichtfelds wucherte meine dichte Wildfangmähne, die meine Mutter verabscheute. Sobald ich mich ihr näherte, bewegte sich ihre Hand wie von einem Magneten angezogen zu der wilden Mähne, den Glutbüscheln, die sie vergeblich zu glätten versuchte. Was wie Zärtlichkeit wirkte, war in Wahrheit der tägliche Kampf meiner Erzeugerin gegen die natürliche Unordnung der Dinge. Doch die starrköpfige und eigensinnige Natur behauptete immer wieder ihr Recht. Sobald ich aus dem Haus trat, entledigte ich mich meines Stirnbands und wurde wieder zum kleinen, molligen Wuschelkopf aus der Rue du Pardon. Ich habe mich oft gefragt, warum meine Mutter sich so sehr an meinem Haar störte. Sah sie einen Fluch darin? Die Vorboten meiner künftigen Verdammnis? Vielleicht. Jedenfalls sah sie mich an wie eine Ausserirdische von einem unbekannten Planeten, die hier gestrandet ist. Sie konnte noch so viel unter ihren Vorfahren wie denen meines Vaters nachforschen, sie fand nicht den Hauch eines Ahnen, von dem ich einen solchen Wuschelkopf geerbt haben könnte, der noch dazu blond war!
Ich meinerseits fühlte mich ebenfalls nicht zu diesem Stamm zugehörig, in den ich hineingeboren worden war und bei dem ich eine schwierige und bedrückende Kindheit durchlebt hatte. Abgesehen vom gewalttätigen und heimtückischen Charakter meiner Eltern war ihre Welt stumpf, trist, phantasielos und tödlich langweilig. Der einzige heitere Tupfer in meiner Umgebung bestand in den mit Goldfaden auf einen Gebetsteppich gestickten Koransprüchen an der Wand des Wohnzimmers. Noch bevor ich lesen lernte, liebte ich es bereits, meine Pupillen durch die auf dem samtenen Hintergrund ineinander verschlungenen Arabesken zu verwirren. Der Rest wurde von der Farbe Grau bestimmt: Wände, Behänge, Gesichter, Mobiliar. Bis hin zum Fell der Katze. Ein verstaubtes Grau in allen Tönen der Depression. Passend zum Dekor herrschte bei uns von morgens bis abends düsteres Schweigen. Hätte Vater die Spatzen zum Schweigen bringen können, nichts hätte ihn davon abgehalten. Was Musikhören betraf, war nicht daran zu denken. Vater stellte das Radio nur zu den genauen Zeiten der Nachrichtensendungen an. Dann leierte eine tiefe Stimme monoton die Einzelheiten der glorreichen königlichen Taten herunter, wie immer gefolgt von einem Einheitsbrei aus Katastrophen, Kriegen und Schiffbrüchen.
Jedoch hatte ich mich – wie es Kinder so gut mit ihren Eltern können – an die Meinen angepasst, an die Dürftigkeit ihrer Empfindungen und an ihre Hässlichkeit. Durch eine geheimnisvolle Alchemie hatte ich eine Blase geschaffen, in die ich mich flüchtete, sobald die Umgebung toxisch wurde. Im Schutz meiner Blase liess ich mich vom Atem der Engel hinwegtragen. Es wird Sie überraschen, dass ein Schwarm als Schmetterlinge verkleideter Engel ein kleines Mädchen in seiner Luftblase hoch in den Himmel ziehen kann. Ich verstehe Ihr Erstaunen. Doch ich versichere Ihnen, genau wie ich Sie sehe, sah ich jene himmlischen Kreaturen auffliegen, beschwingt von den wunderbaren Geschichten, die mir Serghinia erzählte. Sie sagte, deren Mission auf Erden sei, den Weg für die Künstler zu bereiten.
Habe ich Ihnen eigentlich erklärt, dass ich eine Künstlerin bin?
Seit meiner frühesten Kindheit konnte ich die Sprache der Engel entziffern; deshalb verschaffte ich mir mit eigenen Mitteln Zutritt zum Reich der Träume und der Schmetterlinge. Ein bezauberndes und verzaubertes Reich aus Funken, Schauern, Lachgrübchen und allen Farben des Regenbogens. Inmitten der trockenen, strengen