Nest der Störche. Gottfried ZurbrüggЧитать онлайн книгу.
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Gottfried Zurbrügg
NEST DER STÖRCHE
Geschichten aus dem weiten Land zwischen Elbe und Oder
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Coverfoto © muc_buidlmacher - Fotolia.com
ISBN 9783957440822
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Inhalt
In der Altmark nahe bei Wittenberge, das Tagebuch einer Dienstreise
Ein Segen aus schwindelerregender Höhe
Die ganze Liturgie in einem Stück!
Der Strukturwandel fordert ganz neue Ideen: das Tropical
W – wie Weihnachten vor fünfzig Jahren
Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder …
Wir haben immer schon sonntags geöffnet
Die Kirche zu den Menschen bringen!
Das Storchennest
„Die Störche kommen jedes Jahr wieder!“, sagt Börnecke mit einem leichten Lächeln um seinen Mund, den der schwarze Bart fast ganz verdeckt. Börnecke ist eins der liebenswerten Geschöpfe, die in diesem weiten Land entstehen. Er ist für mich sichtbar und spürbar, als sei er ein Mensch, der mit uns die Landschaft und ihre Bewohner erlebt. Vielleicht entstehen solche Geschöpfe in den vielen leeren Häusern, die es hier gibt, in denen eigentlich Menschen wohnen könnten, aber nur noch Erinnerungen die Fenster öffnen. Börnecke ist mir sehr hilfreich, um die Landschaft und ihre Menschen verstehen zu können. Seine Kommentare sind stets sehr deutlich, denn im Gegensatz zu einem Pfarrer braucht er kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wir stehen unter einem Storchennest, das kunstvoll auf einem Wagenrad, das auf einen hohen Pfahl gesteckt wurde, gebaut ist. Viele Meter hoch türmt sich der Haufen aus Reisig und oben stehen die Jungstörche bereit zum ersten Start in das neue Leben. „Sie werden bald losfliegen“, sage ich. „Sie lernen es mit dem Wind umzugehen.“ Eine Windböe zerzaust den Jungstörchen das Gefieder und sie schlagen aufgeregt mit den Flügeln, wagen aber noch nicht den Absprung vom sicheren Nestrand. „Und Sie, werden Sie auch wiederkehren?“ Die Frage gilt mir, als sei ich auch einer von den Jungstörchen und bereits dabei fortzufliegen. „Ich bleibe noch ein paar Tage“, versichere ich und weiß, dass ich damit die Frage nicht beantwortet habe. Börnecke schaut mich durch die kleinen runden Brillengläser prüfend an. Es ist schwer diesem Blick zu widerstehen. „Ja“, antworte ich nun doch, „ich werde wiederkehren in das Land, in dem die Störche noch zu Hause sind, in das Land, wo der Wind in den Windrädern braust, in das Land, wo der Horizont so unendlich weit ist.“ Eben kommt eine neue Windböe und diesmal wagen sie es. Der Wind nimmt die Jungstörche mit hoch in die Luft und sie segeln über die Stoppelfelder, als hätten sie nie etwas anderes getan. „Noch ein paar Tage“, meint Börnecke und seine Worte betreffen mich ebenso wie die Jungstörche. Er muss nicht weitersprechen. Ich weiß auch, dass mein Auftrag hier zuende geht und ich heimkehren werde in den Schwarzwald, wo ich heimisch geworden bin. „Sie hauen auch ab?“, so hat mich am Morgen die Angestellte im Bäckerladen gefragt, und man hörte zu deutlich, wie gern auch sie mit in den Süden davongezogen wäre. „Nein“, habe ich geantwortet, „nein, ich fahre nach Hause, denn meine Zeit hier ist um.“ Sie hat mich nur angesehen mit einem Blick, der mir hier oft begegnet ist, einer Mischung aus Sehnsucht und Neid. „Ich komme wieder.“ Es klang wie ein Versprechen und ich habe es auch so gemeint, auch wenn sie mich zweifelnd ansah. „Die Störche kommen auch wieder, jedes Jahr“, habe ich gesagt. „Ja, die Störche …“, meinte sie, ohne den Satz zu vollenden. „Wir sollten hineingehen, die Frauen warten auf uns“, sagt Börnecke und geht voraus in das alte Pfarrhaus, in dem schon lange kein Pfarrer mehr wohnt. Es ist ein großes Haus, aus schwarzen Fachwerkbalken gebaut, das Fachwerk mit Ziegeln gefüllt, darüber ein riedgedecktes Dach. „Mein Großvater war Pfarrer in Brandenburg“, sage ich und merke, dass ich mich wiederhole. Wie oft habe ich in den letzten Wochen diesen Satz gesagt, um zu begründen, dass ich aus dem Schwarzwald, dem Land, von dem so viele Menschen träumen, hierher gekommen bin. Braucht es eine Begründung, weshalb jemand kommt? Ist es nicht ein wunderbares Land mit den weiten Feldern, den alten Baumbeständen und den vielen Störchen? Vielleicht brauche ich diese Erklärung, denn ich will mich hier heimisch fühlen, ich will ausdrücken, wie sehr ich doch auch hier Wurzeln spüre. Meine Großväter sind ausgewandert, wie viele Menschen auch hier, der eine aus der Schweiz nach Norddeutschland, der andere aus Brandenburg in den Westen. Wir wohnen nun im Schwarzwald und sind selber umgezogen von Bielefeld in den Schwarzwald. Keine weiten Strecken, kein Amerika, kein Australien und doch haben sie und wir die Heimat verlassen.
Mittlerweile sind wir in dem großen Saal angekommen, in dem die Frauen den Tisch sorgfältig mit Kuchen, Torten und belegten Broten, wie es hier üblich ist, gedeckt haben. Um den langen Tisch sitzen Frauen im Alter zwischen fünfzig und achtzig Jahren und sehen mich erwartungsvoll an. Ich schaue mich nach Börnecke um, aber er ist verschwunden, wie immer in den letzten Wochen. Er begleitet mich, er stellt Fragen, er weist mich an, aber dann ist er verschwunden und ich stehe allein der Aufgabe gegenüber.
Man weist mir den Platz am Kopf des Tisches zu. „Dort sitzt immer der Pfarrer“, sagt eine nette alte Dame, die sicher seit vielen Jahren diesen Kreis leitet. „Dort hat er immer gesessen“, will ich antworten, „dort könnte auch mein Großvater gesessen haben,