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Theorie und Therapie der Neurosen. Viktor E. FranklЧитать онлайн книгу.

Theorie und Therapie der Neurosen - Viktor E. Frankl


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nun eine Mittelstellung zwischen diesen beiden extremen Standpunkten einnehmen, und zwar insofern, als wir zwischen einer Neurose im eigentlichen, engeren Wortsinn einerseits und andererseits einer Neurose im weiteren Sinne unterscheiden. Wir können also von der eigentlichen Neurose Pseudoneurosen abgrenzen, womit nicht gesagt ist, daß wir die Vorsilbe „Pseudo“ auch aussprechen müssen – wir können sie ohne weiteres auch auslassen.

      Zumindest im Sinne einer Arbeitshypothese, also in einem mehr oder minder heuristischen Sinne, schlagen wir nun vor, auszugehen von der Definition, daß wir als neurotisch jede Krankheit zu bezeichnen berechtigt sind, die psychogen ist.

      Sobald wir nun diese Ausgangsposition einnehmen, ergibt sich zwanglos ein Schema möglichen Krankseins des Menschen. Als nosologische Einteilungsprinzipien gebrauchen wir hierbei

      1. die Symptomatologie oder Phänomenologie und

      2. die Ätiologie der betreffenden Krankheit;

      das heißt, wir teilen die Krankheiten ein je nach dem, was für (krankhafte) Erscheinungen, eben was für Symptome oder Phänomene sie erzeugen, und andererseits danach, wie sie entstanden sind: je nachdem unterscheiden wir phänopsychische bzw. phänosomatische und somatogene bzw. psychogene Erkrankungen (Abb. 4).

      Zuerst begegnen wir dann der Psychose als einer Erkrankung, die psychische Erscheinungen macht (phänopsychisch), dabei aber somatischen Ursachen ihre Entstehung verdankt (somatogen). Damit ist natürlich nicht gesagt, daß man die supponierten somatischen Ursachen der Psychosen wissenschaftlich auch schon erforscht hat. (Wenn man so will, könnte man daher von den Psychosen als von kryptosomatischen Erkrankungen sprechen.) Im Gegenteil, Kurt Schneider bezeichnet es nachgerade als den Skandal der Psychiatrie, daß die Morbi der endogenen Psychosen bis heute unbekannt sind. Mit der Feststellung von Somatogenese ist selbstverständlich auch nicht gesagt, daß eine somato-gene Erkrankung nicht psycho-therapeutisch angehbar sei (siehe Seite 78).

      Im vorstehenden haben wir Grenzen gezogen, und wo es Grenzen gibt, dort gibt es auch Grenzfälle. Nur muß man sich davor hüten, der Versuchung zu unterliegen, anhand von Grenzfällen etwas zu beweisen oder zu widerlegen, denn mit Hilfe von Grenzfällen läßt sich alles beweisen und alles widerlegen – und das heißt: nichts beweisen und nichts widerlegen. Mit Recht hat Jürg Zutt einmal darauf hingewiesen, daß es auch Lebewesen gibt, von denen man nicht ohne weiteres sagen kann, ob sie zu den Tieren oder den Pflanzen gehören; trotzdem wird niemandem einfallen, aus diesem Grunde zu bestreiten, daß es zwischen Tier und Pflanze einen Wesensunterschied gibt. Heyer bringt ähnliches zum Ausdruck, wenn er darauf hinweist, daß aus dem Vorkommen von Hermaphroditen niemand das Recht ableiten wird, den wesentlichen Unterschied zwischen Mann und Weib zu verleugnen.

      Es soll auch keineswegs bestritten werden, daß das Psychische und das Somatische (also nicht nur das Psychogene und das Somatogene) am Menschen eine innige Einheit eingehen – die psychosomatische Einheitlichkeit des Wesens Mensch. Man darf aber darüber nicht übersehen, daß Einheit nicht identisch ist mit Selbigkeit – ebensowenig wie mit Ganzheit. Das heißt: mag das Psychische und das Somatische am Menschen noch so innig miteinander verbunden sein – dennoch handelt es sich bei den beiden um wesensverschiedene Seinsarten, und das ihnen beiden Gemeinsame ist schließlich nur, daß es sich eben um Arten ein und desselben Seins handelt. Zwischen diesen Seinsarten besteht aber eine unüberbrückbare Kluft. Wir kommen nun einmal nicht darüber hinweg, daß etwa die – physische – Lampe, die ich vor und über mir sehe, hell und rund ist ... während die – psychische – Wahrnehmung eben dieser Lampe oder die – ebenfalls psychische – Vorstellung ihrer (sobald ich die Augen geschlossen habe) nichts weniger als hell und rund ist: eine Vorstellung kann beispielsweise lebhaft sein, aber nie rund.

      Es ist eine Frage für sich, wie man angesichts dieser unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Psychischen einerseits und andererseits dem Somatischen als je einer wesensverschiedenen Seinsart die Einheit des Menschseins auch in der Theorie, in der Schau vom Menschen, im Menschenbild, bewahren und retten könne. Meines Erachtens ist dies nur möglich im Rahmen einer dimensionalontologischen Betrachtung des psychophysischen Problems. Denn solange wir von diesen Seinsarten nur in der Analogie eines Stufenoder Schichtenbaus – also etwa im Sinne von Nicolai Hartmann bzw. Max Scheler – sprechen, besteht immer noch die Gefahr, daß das Wesen Mensch sozusagen auseinanderfällt in ein Leibliches und ein Seelisches – als ob sich dieses Wesen, als ob sich der Mensch aus Leib und Seele (und Geist) „zusammensetzen“ würde. Aber wenn ich beispielsweise dieses Trinkglas, das hier vor mir auf dem Tisch steht, in die Ebene der Tischplatte hinabprojiziere, dann resultiert daraus ein Kreis, und wenn ich diese Projektion in den Seitenriß vornehme, dann resultiert daraus ein Rechteck; trotzdem wird mir nicht einfallen, die Behauptung zu wagen: das Trinkglas setzt sich zusammen aus einem Kreis und einem Rechteck. Ebensowenig nun darf ich sagen, daß sich der Mensch aus Leib und Seele (und Geist) zusammensetzt. Und aus ebendiesem Grunde dürfen das Leibliche und Seelische nicht als auch für sich bestehende Stufen oder Schichten betrachtet werden, sondern eben als Dimensionen des einheitlich-ganzheitlichen Wesens Mensch. Dann erst läßt sich diese Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit adäquat anthropologisch erfassen. Erst dann läßt sich auch verstehen die Kompatibilität des Inkommensurablen, die Einheit des Wesens Mensch trotz der Mannigfaltigkeit der ihn konstituierenden Dimensionen.

      Halten wir also fest: trotz der Einheitlichkeit des Wesens Mensch gibt es eine prinzipielle Verschiedenheit zwischen dem Somatischen und dem Psychischen als seinen Konstituentien (das für ihn wesentliche Konstituens: das Geistige – werden wir sogleich zu besprechen haben). Daran ändert auch nichts, daß es zwischen Psychogenese und Somatogenese nur graduelle Unterschiede gibt. Mein Lehrer Oswald Schwarz pflegte in diesem Zusammenhang folgendes Schema zu entwerfen (Abb. 5):

      In diesem Schema bedeuten die Vertikalen verschiedene Krankheiten mit einem je nachdem größeren oder kleineren psycho- bzw. somatogenen Anteil. Eine Krankheit ist also immer nur mehr oder weniger psycho- bzw. somatogen. Ihr diesbezüglicher Stellenwert im Rahmen des obigen Schemas ist demgemäß ein verschiedener, und die eine Krankheit darstellende Vertikale ist verschieblich; aber als starre und scharfe Grenze bestehen bleibt die Diagonale – das heißt: die Grenze zwischen dem psychischen und dem somatischen Bereich als solchem, als je einer ontologischen Region, als je einer anthropologischen Dimension.

      Im übrigen gilt folgendes: Mag auch jede Krankheit noch so sehr immer beides: sowohl eine psycho- als auch eine somatogene Komponente aufweisen, bloß in wechselndem, gegenseitigem Verhältnis – so ist für uns als Ärzte, als Therapeuten, vom pragmatischen Gesichtspunkt aus das Wichtigste ja nicht einmal, wieviel Psychogenese und wieviel Somatogenese im konkreten Fall in die Ätiologie eingegangen sind; sondern für uns von Bedeutung ist: was jeweils primär vorliegt – ob Psychogenese oder Somatogenese. Der alte weise Spruch: qui bene distinguit, bene docet – ließe sich in diesem Sinne, nämlich im Sinne unserer Forderung nach einer gezielten Therapie, variieren, indem wir sagen: Qui bene distinguit, bene curat.

      Man wende nun nicht ein, daß doch von einer primären Psychobzw. Somatogenese niemals die Rede sein könne, da ja in jedem einzelnen Fall die psychischen und somatischen Kausalkomponenten sich zu einem Kausalring zusammenschließen, so daß das Somatische vom Psychischen ebenso wie das Psychische vom Somatischen immer mitbedingt werde. Dieser Einwand besteht nämlich insofern nicht zu Recht, als von einem Kausalring nur gesprochen werden kann bei einer Querschnittsbetrachtung des Krankheitsgeschehens – während eine Längsschnittbetrachtung alsbald ergibt, daß es sich in Wirklichkeit um eine Kausalspirale handelt, das heißt, es läßt sich im konkreten Einzelfall sehr wohl entscheiden, wo das Zirkelgeschehen seinen Ausgang genommen hat – ob im psychischen oder im somatischen Bereich – mag es späterhin auch noch so sehr zu einem Einanderbedingen des Psychischen und des Somatischen gekommen sein. (Es verfängt auch nicht der Einwand, daß unsere Frage


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