Natur-Dialoge. Astrid Habiba KreszmeierЧитать онлайн книгу.
gute Freundin das im wirklich guten Moment empfiehlt. Nehmen wir an, diesmal sei es eine Klientin: Sie wird sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auf den Weg machen, vermutlich im Verkehr steckenbleiben. Sie wird schon vor dem eigentlichen Ereignis einiges riechen, schmecken und fühlen; es wird, je nachdem, von wo nach wo sie unterwegs ist, mehr oder weniger anstrengend sein. Ich erspare uns jegliche Details. Sie wird aber irgendwann den vereinbarten Treffpunkt erreichen, vermutlich ein Haus. Die Atmosphäre der Tür, die Gerüche im Gang, der Ton der Glocke, der Empfang und dann die Begegnung mit diesem Menschen, der ihre Therapeutin, ihr Berater ist. Ein Blick, ein kurzes Lächeln, eine kleine Unsicherheit, vielleicht sogar Scham oder aber Freude, spontane Geneigtheit, gewisse ritualisierte Handlungen, Händewaschen, ein Glas Wasser.
Selbst wenn alles schon bekannt ist: Dieser Moment der Begegnung wird immer etwas Aufregendes sein, weil er eine in Echtzeit stattfindende Erfahrung ist. Wir treten miteinander in einen gemeinsamen Handlungsraum, und bei allem Bemühen, eine solche Begegnung abzusichern, bleibt sie, was Leben derweilen noch ist: ein unvorhersehbares, unberechenbares Aufeinanderbezogensein, das jederzeit spontan Stimmungen, Gefühle, Ideen und Bewegungen hervorbringen kann. Dieser Unverfügbarkeit des lebendigen Raumes ist nicht gänzlich beizukommen. Wir bleiben ewige Schüler:innen in Sachen Vertrauen und Kompetenz, wenn es ums Lebendige geht. Jede leiblich-situierte Begegnung ist bei genauer Betrachtung ein Lernraum für den Umgang mit lebendigen Dingen.
Unentwegt mittendrin
So unfassbar es klingt: Der Umgang mit lebendigen Dingen, ja überhaupt die Erinnerung daran, dass Leben mit Lebendigkeit zu tun hat, macht konsequent allerlei Risikoberechnungen und Produktivitätssteigerungsmodellen Platz, deren Ergebnisse nur dann treffend sind, wenn spontane Erscheinungen durch Absicherung unwahrscheinlich gemacht werden.
Eine langjährige Freundin ist Großmutter geworden. Während der Schwangerschaft war sie irritiert darüber, dass ihre Tochter von einem digitalen Schwangerschaftsprogramm regelrecht unter Kontrolle gehalten wurde. Ihre »Mama-Werden«-App wurde zur Autorität und Orientierung Nummer eins. Auch wenn wir die »großmütterliche Übertreibung« abziehen und auch die mögliche Kränkung, als Mutter weniger Stimme zu haben als ein programmierter Ratgeber, so teile ich dennoch ihre Besorgnis: »Meine Tochter verliert ihr natürliches Gefühl zu sich selbst, das Vertrauen in ihre Wahrnehmungen und den Dialog mit dem Kind, den Menschen und der Welt rundum.«
Es ist ein Weltverlust, ein Verlust des vertieften, sinnlichen, leiblichen und direkten Handelns in einer mehrdimensionalen wirklichen Welt, den wir vorantreiben, der uns vorantreibt. Das wirkt unmittelbar in alle beruflichen Felder hinein.
Umso überraschender ist, dass die menschlichen Beziehungen zur Welt in Psychotherapie und Beratung kaum Aufmerksamkeit erhalten, während sie in der Soziologie, der politischen Philosophie und alternativen Bewegungen intensiv diskutiert werden. Selbst in systemischen Schulen, die für eine kontextbewusste Schau von Kommunikationsnetzwerken stehen, ist die Frage nach den Beziehungen mit der äußeren Welt – sei sie selbst-lebendig oder von Menschen gemacht – aktuell kaum im Bewusstsein. Die ökologische Verwobenheit hat mitunter dem rein mensch-orientierten oder ganz abstrakten Systemdenken Platz gemacht. Fast könnte man meinen, dem systemischen Netzwerk seien einige Welten-Fäden entglitten, die in seinem Entstehen noch durchaus prominent mitgedacht wurden.3
Hier mache ich mich daran, einige dieser ökologischen Fäden wieder aufzugreifen, ihre Textur in meinen weiblichen Händen zu fühlen, sie mit anderen Fäden aus älterer und jüngerer Zeit zu verknüpfen und neu ins Spiel zu bringen. Wie schön, dass ich dabei nicht alleine war und bin. Durch die kollegialen Gespräche, die Begegnungen mit Klienten und Klientinnen und die Gegenwart meiner menschlichen und anders-als-menschlichen Freunde und Freundinnen ist herzhaftes, lebendiges Miteinander entstanden. All das webt in wiederkehrenden Erzählsträngen mit.
So geht es um Beiträge zum Weltlichen, zur Erinnerung an das sagenhaft Selbstverständliche, nämlich daran, dass sich das Leben ganz leiblich auf der Erde abspielt. Auch wenn darin viel vom Lebendigen, ja mitunter vom Beseelten oder gar Wunderbaren die Rede sein wird: All diese Gedanken sind tief »gottlos«, ganz und gar an Immanenz orientiert. Das Erdlingsdasein ist ausreichend unberechenbar und einfallsreich. So voller Wunder und Kraft, dass es eine Freude ist und es sich lohnt, mit offenen Augen durch Land und Leben zu ziehen.
1 Mit dem Begriff der Erddemenz will ich jene »Welt- und Erd-Entfremdung« ansprechen, die seit der Entwicklung der Schriftkulturen und ihrer dokumentierten Geistesgeschichte die Mehrzahl der menschlichen Kulturen prägt. Mit diesem Phänomen setzen sich viele Menschen in Theorie und Praxis auseinander. Meine Gedanken stützen sich unter anderem auf die theoretischen Analysen von Hannah Arendt sowie auf die Auseinandersetzungen des französischen Soziologen Bruno Latour und auf die Gedankenwelt der Ökofeministin Donna Haraway.
2 Eine schweizerische Fachzeitschrift für Beratungspersonen, das BSO Journal, widmet ihre Ausgabe 2/2020 der boomenden Frage der Online-Beratungen und ist sich sicher: Die neue Zeit ist digital. Matthias Varga von Kibéd erklärt darin im Gespräch mit Sandra Küng »Wie systemische Strukturaufstellung online geht« und stellt fest: »Systemische Strukturaufstellungen lassen sich sogar dann online durchführen, wenn der Klient und die Repräsentanten alle an verschiedenen Orten sind.« Split-Screen und Facetracking sind hier seine technischen Helfer.
3 Hier beziehe ich mich vor allem auf drei bekannte Namen: Gregory Bateson, der als wesentlicher Wegbereiter des systemischen Denkens gilt, hat in seinen gesellschaftskritischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen, die Natur, also die nicht-menschliche Welt, noch an Bord. Zwar ist auch er, wie viele Männer seiner und schon geraumer Zeit, auf der Suche nach dem »einenden Muster«, das die Verschränkung von Materie und Geist zu erklären vermag, und tendiert letztlich dazu, dem Geist den Vorrang zu geben, aber immerhin ist er in fürsorglicher Hinwendung zur Frage: Welches Muster wirkt zwischen dem Einzelnen? In Geist und Natur schreibt er auf Seite 22: »In Wahrheit ist die richtige Weise anzufangen, über das Muster, das verbindet, nachzudenken, es primär (was immer das bedeuten mag) als einen Tanz ineinandergreifender Teile aufzufassen, und erst sekundär als festgelegt durch verschiedenartige physikalische Grenzen …«
Ilya Prigogine, der als Physiker, Chemiker und Philosoph rund um seine Thesen der Selbstorganisation und dissipativer Strukturen die Systemtheorie stark inspirierte, hatte gemeinsam mit der Philosophin Isabelle Stengers unter dem Titel Im Dialog mit der Natur eine wissenschaftskritische und philosophiekritische Auseinandersetzung der »alten« Trennung von Natur und Kultur angeregt. Isabelle Stengers ist als Wissenschaftsphilosophin bis zum heutigen Tag in ihrem Werk daran, eine kritische Auseinandersetzung von Wissenschaft, Politik, Ökologie und Kosmologie zu wagen (vgl. Stengers 2008).
Humberto Maturana, der gemeinsam mit Franzisco Varela die Idee der Autopoiese als Muss in den systemischen Diskurs einbrachte, lehrte bis zu seinem Tod im Frühjahr 2021 noch gemeinsam mit Ximena Dávila im Institut Matriztica in Chile ihren Ansatz der »Cultural Biology«, »Biologia Cultural«. Seine unermüdliche Forschung rund um das, wie Leben und menschliches Leben beschrieben und gestaltet werden kann, wird im Laufe dieser Arbeit immer wieder einfließen.
2Praxis des Streunens
»Lebende Systeme sind wunderbar spontan.«
Humberto Maturana
»Nichts ist mit allem verbunden. Alles ist mit etwas verbunden.«
Donna Haraway, Unruhig bleiben, S. 48
Seit dreißig Jahren arbeite ich mit Menschen in beratender und psychotherapeutischer Praxis. Gemeinsam mit meinem Partner und Kollegen und Kolleginnen erfinden wir Ausbildungen, zetteln wir Netzwerke an,