Der Fortschritt dieses Sturms. Andreas MalmЧитать онлайн книгу.
allgemeinen Fragen: Was in aller Welt ist dieses Ding namens Natur? In welcher Beziehung steht sie zur Gesellschaft? Wer sind die eigentlich mächtigen Akteur:innen in dem Drama, das die beiden miteinander verwebt; wie knüpft der Mensch an materielle Objekte an; sind es Technologien oder Verhältnisse, die die Fäden in den Händen halten; was konstituiert eine ökologische Krise; was können wir jemals über all diese Dinge wissen? Hierbei lassen sich verschiedene Formen des Konstruktionismus, der Akteur-Netzwerk-Theorie, des Neuen Materialismus, des Posthumanismus, der Metabolischen-Riss-Theorie, des Kapitalismus als Weltökologie und eine Unzahl weiterer konzeptioneller Denkansätze ausmachen, die sich mit der Verwicklung von Gesellschaftlichem und Natürlichem auseinanderzusetzen versuchen. Kann aber eine dieser Formen Orientierung bieten für den Weg, den der Sturm nehmen wird? Dieses Buch macht sich daran, ein paar jener Theorien zu überprüfen, die angesichts des Klimawandels am Kreuzungspunkt Natur/ Gesellschaft zirkulieren.
Nun mag Theorie nicht unbedingt als die dringlichste Unternehmung in einer sich erwärmenden Welt erscheinen. Man wird das Gefühl nicht los, dass die einzig sinnvolle Aufgabe momentan darin besteht, alles andere auf sich beruhen zu lassen und die Verbrennung fossiler Energieträger physisch zu unterbinden, die Luft aus den Reifen zu lassen, die Landebahnen zu blockieren, die Plattformen zu belagern und in die Minen vorzudringen. Tatsächlich liegt der einzige Nutzen von Donald Trumps Wahlsieg darin, dass er die letzten noch verbliebenen Illusionen zerstreut hat, etwas anderes als ein organisierter, kollektiver, militanter Widerstand hätte auch nur ansatzweise eine Chance, die Welt irgendwo anders hin als kopfüber, mit maximaler Geschwindigkeit, in den kataklysmischen Klimawandel hineinzustoßen. Denn gesagt wurde doch schon alles; jetzt ist es Zeit für die Konfrontation. Dieses Buch will keine Argumente zur Beschwichtigung derartiger Impulse liefern. Es wurde jedoch in der Überzeugung geschrieben, dass manche Theorien die Situation verständlicher machen können, während andere das Verständnis trüben. Denn dem Handeln ist weiterhin am besten mithilfe konzeptueller Karten gedient, auf denen die kollidierenden Kräfte mit größtmöglicher Genauigkeit verzeichnet sind, nicht mittels verschwommener Diagramme und diffusem Denken, woran, wie wir sehen werden, keinerlei Mangel herrscht. Theorie kann Teil des Problems sein. Wenn in einer sich erwärmenden Welt alles der Reevaluierung preisgegeben ist, muss das zwangsläufig auch für die Theorie gelten: Auch sie wird zur Rechenschaft gezogen, muss ihre Relevanz beweisen und ihre Beteiligung offenlegen, selbst wenn manche ihrer Produzent:innen sowie Konsument:innen nie in Betracht ziehen würden, sich an einer direkten Aktion gegen fossile Brennstoffe zu beteiligen.
Dieses Buch ist nicht das erste, das zu dieser Auseinandersetzung drängt; wie wir sehen werden, kommen die zu betrachtenden Theorien langsam überein, dass die Frage nach dem Klimawandel ihr gemeinsamer Prüfstein sein wird, eine Frage, die jede Theorie beantworten muss, um sich zu bewähren.33 Daran anschließend erst lassen sich ein paar spezifischere Kriterien aufstellen. Eine adäquate Theorie sollte in der Lage sein, das Problem als ein geschichtliches zu begreifen, als eines, das durch den Wandel der Zeit – die Geburt und fortwährende Expansion der fossilen Ökonomie – aufgekommen ist und in deren Verlauf zu Veränderungen beigetragen hat. Sie sollte den Sinn hinter dem Akt des Ausgrabens und Anzündens fossiler Brennstoffe ausmachen können. Selbst eine innerhalb des kapitalistischen Landesinneren formulierte Theorie sollte nicht zuletzt dem Umstand Rechnung tragen, dass die globale Erwärmung eingangs gerade dort vor Anker geht, wo der Modernisierungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Menschen, denen es an den grundlegendsten Annehmlichkeiten fehlt, die es sich nicht leisten können, sich innerhalb eines Spiegelkabinetts einzurichten, die weiterhin von jener Art Natur leben, die Jameson durch die amerikanischen Städte der 1980er ausgetilgt vorfand, stehen als Erstes in der Schusslinie. Die meisten der aus den steigenden Meeren gefischten Leichen sind die ihren.
Einem Ort wie New York City ist es möglich, sich von einem Sturm zu erholen und den Blick wieder auf die Bildschirme zu richten, wohingegen sich dem Erwärmungszustand auf den Philippinen nur schwerlich die kalte Schulter zeigen lässt. Daher auch die oft vermeldeten Ergebnisse einer Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2015: 79 Prozent der Einwohner:innen von Burkina Faso gaben an, hinsichtlich des Klimawandels »sehr besorgt« zu sein, im Vergleich zu lediglich 42 Prozent der Japaner:innen, die sich weitaus größere Sorgen (72 Prozent) hinsichtlich des Islamischen Staats machten.34 Burkina Faso wird in diesem Augenblick vom Klimawandel zerstört, Staub- und Sandstürme – vor Ort als »die roten Winde« bekannt – verschütten, was auf dem von immer unregelmäßigeren Regenfällen verdorrten Land an Nutzpflanzen noch erhalten ist.35 Beharrlich zeigt sich das Motiv größerer Besorgnis in den Entwicklungsländern. Das Bruttoinlandsprodukt korreliert negativ mit diesem Gefühl: Menschen in Ländern wie Brasilien oder Bangladesch neigen in einem viel höheren Maße als ihre Mitmenschen in den USA oder in Großbritannien dazu, das Problem als höchst gravierend einzuschätzen, auch wenn das Unbehagen im Land selbst wiederum bestimmt genauso stratifiziert ist.36 Der Erwärmungszustand als eine doppelte Realisation stellt sich zunächst innerhalb jener Massen ein, die ohnehin über kein nennenswertes Eigentum verfügen und überwiegend an den Peripherien der kapitalistischen Weltwirtschaft zu finden sind. Es handelt sich um eine Binsenweisheit, dass die menschliche Verfassung sich in ihrer konzentriertesten und verhängnisvollsten Form innerhalb der Massen ausdrückt: Gerade deshalb sollte jede Theoretisierung ihre Antennen auf sie ausrichten. Ein Ereignis wie Hurrikan Sandy ist deshalb so bedeutsam, weil es das Signal bis vor die eigene Haustür übermittelt.
Was, außer bloße Verzweiflung, kann dann aber durch eine Theorie für den Erwärmungszustand überhaupt angeregt werden? Anders ausgedrückt: Wenn sowohl die 1,5-Grad-Celsiusals auch die 2-Grad-Celsius-Leitplanken durchbrochen worden sind, sollten wir nicht einfach zu dem Schluss kommen, dass der Sturm unkontrollierbar wütet und wir genauso gut Däumchen drehen könnten? Nein. Zuallererst sollten wir den Schluss daraus ziehen, dass der Bau eines neuen Kohlekraftwerks oder der fortgesetzte Betrieb eines alten, all die Ölbohrungen, der Ausbau eines Flughafens oder die Planung einer Autobahn mittlerweile eine irrationale Gewalttat darstellen. Vieles spricht dafür, dass es sich bei der großflächigen Verbrennung fossiler Energieträger seit jeher um Gewalt gehandelt hat, fügt sie anderen Menschen und Arten schließlich Schaden zu, und dass sie, seitdem die klimawissenschaftlichen Grundlagen weitgehend bekannt sind, jedweder Vernunft zuwiderläuft. Sobald aber die Temperaturen um 1,5 Grad Celsius gestiegen sind oder ein Meeresspiegelanstieg von mehreren Metern in das Erdsystem geschleust worden ist, ist das nie gekannte, wahnwitzige Aggressionsmaß der Verbrennungen schlicht nicht mehr zu leugnen. Fiel die Auflehnung gegen fossile Brennstoffe bisher eher dürftig aus, so sollte sie nun erbittert betrieben werden: Selbst nach all dem gebt ihr nicht auf. Der Kampf besteht darin, die Verluste zu minimieren und die Überlebenschance zu maximieren. Was damit ganz konkret zu erreichen sein wird? Zu dieser Frage werden wir gegen Ende nur ein paar sehr kurze und vorläufige Überlegungen anstellen können. Vorerst aber wollen wir von der Prämisse ausgehen, dass jede sich mit dem Erwärmungszustand befassende Theorie den Kampf um Klimastabilisierung – mit der Zerstörung der Fossilwirtschaft als dem notwendigen ersten Schritt – als ihren praktischen, wenn auch nur ideellen Bezugspunkt festzusetzen hat. Denn erst dadurch wird der Weg frei sein für Handlungen und Widerstand.
KOHLEFUND AUF LABUAN
Um nun aber die Gegenwart zu theoretisieren, bedarf es eines Bilds der auf ihr lastenden Vergangenheit.
Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts setzte das Britische Imperium Dampfschiffe ein, um seine Gebietshoheit weiter auszudehnen und die Aneignung von Ressourcen aus der ganzen Welt zu beschleunigen. Diese Schiffe benötigten Kohle. Daher wurden Akteure der kaiserlichen Maschinerie – Offiziere, Ingenieure, Kaufleute – angewiesen, überall dort nach Kohleflözen Ausschau zu halten, wo sie auf Land treffen würden, etwa auf Borneo, wo 1837 ein Missionar auf ein paar Ausstriche stieß. Seine Entdeckung löste einen Ansturm auf das schwarze Gold dieser weit abgelegenen, jedoch geradewegs auf der Strecke zwischen Indien und China liegenden Insel aus, die das Potenzial zum Treibstoffdepot für Dampfboote barg, die nun die Küsten ebenjener Länder frequentierten. Die Reserven, die die größte Neugier entfachten, befanden sich auf einer kleinen Insel namens Labuan. Vor der nördlichen Spitze Borneos als besonders gut geeigneter Anlaufhafen gelegen, war Labuan von üppigen Tropenwäldern bedeckt, inmitten derer