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Hildegard von Bingen. Ursula KlammerЧитать онлайн книгу.

Hildegard von Bingen - Ursula Klammer


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      Bei diesen facettenreichen und zum Teil emotionsgeladenen Themen und Debatten sollte immer der konkrete Mensch mit seinen existentiellen Bedürfnissen und seiner unantastbaren Würde im Mittelpunkt stehen. Hildegard von Bingen propagiert in ihren Schriften und visionären Bildern einen anthropozentrischen Ansatz: Der Mensch steht im Zentrum der Schöpfung, ja des gesamten Kosmos. Mit diesem ist er auf vielfältige Weise untrennbar verbunden.

      Diese Interdependenz gilt es neu zu entdecken. Gerade auf dem Gebiet der Heilkunde sind schon seit Längerem Bestrebungen im Gang, unsere hochspezialisierte, überwiegend wissenschaftlich orientierte Medizin durch naturheilkundliche bzw. komplementärmedizinische Verfahren zu ergänzen. Im Unterschied zu einer rein mechanischen oder medikamentösen (Symptom-)Behandlung berücksichtigt eine ganzheitlich orientierte Krankenvorsorge bzw. Betreuung auch die sozialen sowie geistig-religiösen Bedürfnisse des Menschen. Hildegard von Bingen hat schon im 12. Jahrhundert auf die unauflösbare Einheit von Leib und Seele hingewiesen. Sie baut ihre ganze Lehre vom Menschen, von Welt und Kosmos auf einer – modern ausgedrückt – psychosomatisch orientierten Anthropologie und Heilkunde auf. In ihrer bildreichen, naturnahen Sprache weist Hildegard immer wieder auf das schöpferische, wohlwollende Zusammenwirken von Körper, Geist und Seele hin. „Die Seele ist für den Körper, was der Saft für den Baum ist“, lässt Hildegard in ihren theologisch-philosophischen Schriften anklingen.

      Da die visionär und mystisch begabte Nonne immer wieder mit persönlichen Krisen konfrontiert war – u. a. aufgrund von schweren Krankheitsschüben, Konflikten mit Klerikern und kirchlichen Behörden oder aufgrund einer äußerst schmerzlichen Trennung im privaten bzw. klösterlichen Umfeld –, vermag sie aus eigener Erfahrung und Betroffenheit heraus nützliche Antworten auf tiefgründige Lebensfragen zu geben. Hildegards Schriften enthalten zeitlos gültige Wahrheiten und Hinweise, wie die Menschheit die großen Herausforderungen erfolgreich bewältigen kann. Das Einüben neuer Lebenshaltungen gelingt ihrer Meinung nach am besten in Freiheit und mit Geduld. Sich dabei selbst zu überfordern, sei kontraproduktiv, hält die spirituell erfahrene Äbtissin fest.

      Hildegards beeindruckendes Lebenszeugnis und ihre geistreichen, inspirierenden Schriften sind eine unerschöpfliche Quelle für all jene, die nach einem erfüllten und authentischen Leben suchen.

       Das 12. Jahrhundert: Umbruch und Aufbruch

      Hildegard von Bingen (1098–1179) wurde in die bewegte Zeit des Hochmittelalters hineingeboren. Diese Epoche wird heute übereinstimmend zwischen 1000 und 1250 festgelegt. Als Hildegard das Licht der Welt erblickte, lag die folgenreiche Spaltung der Christenheit in eine römische Westkirche und eine Ostkirche unter der Führung von Byzanz (1054) gerade einmal 40 Jahre zurück.

      Sehr oft wird das Mittelalter vorschnell als eine eher dunkle, düstere Zeit zwischen der Antike und der Neuzeit eingestuft, die u. a. von Kriegen, allen voran den Kreuzzügen, der Pest sowie von misslichen Lebensumständen – beispielsweise Unfreiheit und Unterdrückung großer Bevölkerungsschichten – geprägt ist. Wenn man die annähernd 1000 Jahre des Mittelalters zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert auf europäischem Boden allerdings etwas differenzierter betrachtet, dann zeichnet sich durchaus auch eine hellere Seite ab, die mit wegweisenden Entwicklungen in Zusammenhang gebracht werden kann: Die ersten Universitäten wurden gegründet, Städte entstanden bzw. erblühten und der Handel sowie das Handwerk erfuhren einen enormen Aufstieg.

      Das im Mittelalter vorherrschende Ständesystem wies jedem und jeder seinen bzw. ihren festgelegten Platz in der Gesellschaft zu. Diese feste Gesellschaftsordnung galt als von Gott gegeben und daher in der Regel als unveränderlich. An der Spitze regierten auf der einen Seite der Kaiser oder ein König, auf der anderen der Papst. Die Vertreter der Kirche bildeten den ersten Stand. Dazu gehörten neben dem Papst Bischöfe, Äbte, Priester, der so genannte niedere Klerus sowie eine große Vielfalt an Mönchen und Nonnen. Sie hatten für das Seelenheil der Bevölkerung Sorge zu tragen.

      Der zweite Stand umfasste den Adel, also beispielsweise Herzöge, Grafen, Barone, Fürsten sowie Ritter. Diese gesellschaftliche Schicht war für die Sicherheit der Bevölkerung zuständig, besonders auch für die Verteidigung von Land und Leuten im Kriegsfall. Die Ritter gewannen mit der Kriegsführung zu Pferd (ca. ab dem 9. Jh.) an Bedeutung und als Zeichen ihrer Wichtigkeit für ihren Herren bekamen sie beachtliche Privilegien zuerkannt. Im 12. Jahrhundert erlebte das Rittertum seine Blütezeit. Schon ca. 200 Jahre später verloren die höfischen Ritter durch das Aufkommen von Söldnerheeren und den Einsatz neuer Waffen an Bedeutung. Ihr gesellschaftlicher Abstieg folgte.

      Der dritte Stand bestand aus Bauern und Bürgern. Diese machten ungefähr 90 Prozent der mittelalterlichen Bevölkerung aus. Unter ihnen herrschten große Unterschiede hinsichtlich der Vermögensverteilung. Die so genannten freien Bauern besaßen ein eigenes Stück Land, das sie bewirtschaften konnten. Der größere Teil der bäuerlichen Bevölkerung aber war besitzlos und ohne eigene Rechte, also unfrei. Man nannte sie Leibeigene und sie wurden von ihren Gutsherren häufig ausgebeutet. Als Gegenleistung für das ihnen zur Verfügung gestellte Stück Land zahlten sie relativ hohe Abgaben oder leisteten Frondienste. Sie zogen für ihren Herrn in den Krieg und waren ihm meist ein Leben lang zu Gehorsam verpflichtet. Im Gegenzug verpflichtete sich der Gutsherr, seinen Untergebenen „Schirm und Schutz“ zu bieten.

      Die Masse der bäuerlichen Bevölkerung führte ein karges, von Hunger bedrohtes Leben. Die Menschen hausten zumeist in engen und düsteren Hütten. Heizmaterial war vielfach knapp, und unzureichende hygienische Bedingungen gefährdeten die Gesundheit der ärmlichen Bevölkerung. Die weit verstreuten Weiler bzw. Ortschaften waren größtenteils nur durch schlechte Straßen oder Wege miteinander verbunden.

      Wanderprediger lehrten öffentlich auf Straßen und Plätzen. Häufig in Lumpen gehüllt, streiften sie mit ihren Gefährten umher und erbettelten sich ihren Lebensunterhalt. Auf den Straßen begegnete man arbeitslosen Handwerkern, verarmten Vagabunden und nicht selten Aussätzigen. Gewalt und Brutalität waren Folgeerscheinungen der ungerechten Vermögensverhältnisse und der oft aussichtslosen Perspektiven vieler Tagelöhner.

      Mit zunehmendem Aufstieg der Städte im 12. Jahrhundert zogen immer mehr Menschen vom Land in die Stadt. Auch so genannte Unfreie versuchten ihren elenden Arbeits- und Lebensbedingungen zu entfliehen. Wenn sie von ihrem Herrn nicht innerhalb eines Jahres zurückbeordert wurden, gelang es ihnen sogar, frei zu werden. In den Städten entstanden nach und nach Märkte, die sich mancherorts bald zu beachtlichen Wirtschaftszentren entwickelten. Handwerk und Handel erfuhren eine Blütezeit, manche Bürger wurden mächtiger und reicher als viele Adelige.

       Ein Kontinent bewegt sich

      Als Hildegard geboren wurde, veränderte sich das Gesicht Europas allmählich. Die Bevölkerung wuchs, neue Flächen wurden urbar gemacht und neue Städte gegründet. Bessere landwirtschaftliche Geräte und effizientere Anbaumethoden führten zu einem deutlichen Aufschwung. Die Ländereien wurden dichter besiedelt und die Städte entwickelten sich zu bedeutenden Zentren. Ein selbstbewusstes Bürgertum gewann immer mehr an politischem Einfluss und emanzipierte sich allmählich von der kirchlichen Vorherrschaft. Der Aufwärtstrend zeigte sich auch an der Verbreitung der so genannten schönen Künste – vornehmlich an Fürstenhöfen sowie in den Städten. Die Minnelieder oder beeindruckende Kirchenbauten zeugen heute noch vom künstlerischen Glanz dieser Epoche.

      Durch die enge Verbindung von Kirche und Staat hatten viele Fürsten kirchliche Ämter und Güter inne. Ebenso lebten viele Bischöfe als Vasallen des Königs wie weltliche Fürsten und waren stark in wirtschaftliche und politische Geschäfte verstrickt. Dieses Missstandes überdrüssig, wandte sich Hildegard von Bingen als Äbtissin brieflich an den römisch-deutschen König Friedrich I. Barbarossa [später Kaiser des römisch-deutschen Reichs], um sich gegen den Kauf von Kirchenämtern (Simonie) und die so genannte Laieninvestitur starkzumachen.1 Diese Praxis bedeutete, dass kirchliche Amtsträger von weltlichen Herrschern (anstatt von den zuständigen Bischöfen bzw. dem Papst) eingesetzt wurden. Zwischen Barbarossa und dem Papst war es zu starken Spannungen und schließlich zu einem erbitterten


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