Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Ehrhard BahrЧитать онлайн книгу.
Zweites Kapitel
Gewöhnt, auf diese Weise sich selbst zu quälen, griff er nun auch das Übrige, was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die größten Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, sein Talent als Dichter und Schauspieler, mit hämischer Kritik von allen Seiten an. Er sah in seinen Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen, ohne innern Wert; er wollte darin nur steife Schulexerzitien erkennen, denen es an jedem Funken von Naturell, Wahrheit und Begeisterung fehle. In seinen Gedichten fand er nur ein monotones Silbenmaß, in welchem, durch einen armseligen Reim zusammengehalten, ganz gemeine Gedanken und Empfindungen sich hinschleppten; und so benahm er sich auch jede Aussicht, jede Lust, die ihn von dieser Seite noch allenfalls hätte wieder aufrichten können.
[95]Seinem Schauspielertalente ging es nicht besser. Er schalt sich, dass er nicht früher die Eitelkeit entdeckt, die allein dieser Anmaßung zum Grunde gelegen. Seine Figur, sein Gang, seine Bewegung und Deklamation mussten herhalten; er sprach sich jede Art von Vorzug, jedes Verdienst, das ihn über das Gemeine emporgehoben hätte, entscheidend ab und vermehrte seine stumme Verzweiflung dadurch auf den höchsten Grad. Denn, wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich, von dem Umgange der Musen sich loszureißen, sich ihrer Gemeinschaft auf immer unwürdig zu erklären und auf den schönsten und nächsten Beifall, der unsrer Person, unserm Betragen, unsrer Stimme öffentlich gegeben wird, Verzicht zu tun.
So hatte sich denn unser Freund völlig resigniert und sich zugleich mit großem Eifer den Handelsgeschäften gewidmet. Zum Erstaunen seines Freundes und zur größten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der Börse, im Laden und Gewölbe tätiger als er; Korrespondenz und Rechnungen und was ihm aufgetragen wurde besorgte und verrichtete er mit größtem Fleiß und Eifer. Freilich nicht mit dem heitern Fleiße, der zugleich dem Geschäftigen Belohnung ist, wenn wir dasjenige, wozu wir geboren sind, mit Ordnung und Folge verrichten, sondern mit dem stillen Fleiße der Pflicht, der den besten Vorsatz zum Grunde hat, der durch Überzeugung genährt und durch ein innres Selbstgefühl belohnt wird; der aber doch oft, selbst dann, wenn ihm das schönste Bewusstsein die Krone reicht, einen vordringenden Seufzer kaum zu ersticken vermag.
Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig fortgelebt und sich überzeugt, dass jene harte Prüfung vom [96]Schicksale zu seinem Besten veranstaltet worden. Er war froh, auf dem Wege des Lebens sich beizeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt zu sehen, anstatt dass andere später und schwerer die Missgriffe büßen, wozu sie ein jugendlicher Dünkel verleitet hat. Denn gewöhnlich wehrt sich der Mensch so lange, als er kann, den Toren, den er im Busen hegt, zu verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt.
So entschlossen er war, seinen liebsten Vorstellungen zu entsagen, so war doch einige Zeit nötig, um ihn von seinem Unglücke völlig zu überzeugen. Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Liebe, des poetischen Hervorbringens und der persönlichen Darstellung mit triftigen Gründen so ganz in sich vernichtet, dass er Mut fasste, alle Spuren seiner Torheit, alles, was ihn irgend noch daran erinnern könnte, völlig auszulöschen. Er hatte daher an einem kühlen Abende ein Kaminfeuer angezündet und holte ein Reliquienkästchen hervor, in welchem sich hunderterlei Kleinigkeiten fanden, die er in bedeutenden Augenblicken von Marianen erhalten oder derselben geraubt hatte. Jede vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit, da sie noch frisch in ihren Haaren blühte; jedes Zettelchen an die glückliche Stunde, wozu sie ihn dadurch einlud; jede Schleife an den lieblichen Ruheplatz seines Hauptes, ihren schönen Busen. Musste nicht auf diese Weise jede Empfindung, die er schon lange getötet glaubte, sich wieder zu bewegen anfangen? Musste nicht die Leidenschaft, über die er, abgeschieden von seiner Geliebten, Herr geworden war, in der Gegenwart dieser Kleinigkeiten wieder mächtig werden? Denn wir merken erst, wie traurig und unangenehm [97]ein trüber Tag ist, wenn ein einziger durchdringender Sonnenblick uns den aufmunternden Glanz einer heitern Stunde darstellt.
Nicht ohne Bewegung sah er daher diese so lange bewahrten Heiligtümer nacheinander in Rauch und Flamme vor sich aufgehen. Einige Mal hielt er zaudernd inne und hatte noch eine Perlenschnur und ein flornes Halstuch übrig, als er sich entschloss, mit den dichterischen Versuchen seiner Jugend das abnehmende Feuer wieder aufzufrischen.
Bis jetzt hatte er alles sorgfältig aufgehoben, was ihm, von der frühesten Entwicklung seines Geistes an, aus der Feder geflossen war. Noch lagen seine Schriften in Bündel gebunden auf dem Boden des Koffers, wohin er sie gepackt hatte, als er sie auf seiner Flucht mitzunehmen hoffte. Wie ganz anders eröffnete er sie jetzt, als er sie damals zusammenband!
Wenn wir einen Brief, den wir unter gewissen Umständen geschrieben und gesiegelt haben, der aber den Freund, an den er gerichtet war, nicht antrifft, sondern wieder zu uns zurückgebracht wird, nach einiger Zeit eröffnen, überfällt uns eine sonderbare Empfindung, indem wir unser eignes Siegel erbrechen und uns mit unserm veränderten Selbst wie mit einer dritten Person unterhalten. Ein ähnliches Gefühl ergriff mit Heftigkeit unsern Freund, als er das erste Paket eröffnete und die zerteilten Hefte ins Feuer warf, die eben gewaltsam aufloderten, als Werner hereintrat, sich über die lebhafte Flamme verwunderte und fragte, was hier vorgehe?
»Ich gebe einen Beweis«, sagte Wilhelm, »dass es mir Ernst sei, ein Handwerk aufzugeben, wozu ich nicht geboren ward«; und mit diesen Worten warf er das zweite Paket [98]in das Feuer. Werner wollte ihn abhalten, allein es war geschehen.
»Ich sehe nicht ein, wie du zu diesem Extrem kommst«, sagte dieser. »Warum sollen denn nun diese Arbeiten, wenn sie nicht vortrefflich sind, gar vernichtet werden?«
»Weil ein Gedicht entweder vortrefflich sein oder gar nicht existieren soll; weil jeder, der keine Anlage hat, das Beste zu leisten, sich der Kunst enthalten und sich vor jeder Verführung dazu ernstlich in Acht nehmen sollte. Denn freilich regt sich in jedem Menschen ein gewisses unbestimmtes Verlangen, dasjenige, was er sieht, nachzuahmen; aber dieses Verlangen beweist gar nicht, dass auch die Kraft in uns wohne, mit dem, was wir unternehmen, zustande zu kommen. Sieh nur die Knaben an, wie sie jedes Mal, sooft Seiltänzer in der Stadt gewesen, auf allen Planken und Balken hin und wider gehen und balancieren, bis ein anderer Reiz sie wieder zu einem ähnlichen Spiele hinzieht. Hast du es nicht in dem Zirkel unsrer Freunde bemerkt? Sooft sich ein Virtuose hören lässt, finden sich immer einige, die sogleich dasselbe Instrument zu lernen anfangen. Wie viele irren auf diesem Wege herum! Glücklich, wer den Fehlschluss von seinen Wünschen auf seine Kräfte bald gewahr wird!«
Werner widersprach; die Unterredung ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht ohne Bewegung die Argumente, mit denen er sich selbst so oft gequält hatte, gegen seinen Freund wiederholen. Werner behauptete, es sei nicht vernünftig, ein Talent, zu dem man nur einigermaßen Neigung und Geschick habe, deswegen, weil man es niemals in der größten Vollkommenheit ausüben werde, ganz aufzugeben. Es finde sich ja so manche leere Zeit, die man dadurch [99]ausfüllen und nach und nach etwas hervorbringen könne, wodurch wir uns und andern ein Vergnügen bereiten.
Unser Freund, der hierin ganz anderer Meinung war, fiel ihm sogleich ein und sagte mit großer Lebhaftigkeit:
»Wie sehr irrst du, lieber Freund, wenn du glaubst, dass ein Werk, dessen erste Vorstellung die ganze Seele füllen muss, in unterbrochenen, zusammengegeizten Stunden könne hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muss ganz sich, ganz in seinen geliebten Gegenständen leben. Er, der vom Himmel innerlich auf das köstlichste begabt ist, der einen sich immer selbst vermehrenden Schatz im Busen bewahrt, er muss auch von außen ungestört mit seinen Schätzen in der stillen Glückseligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich hervorzubringen sucht. Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen! Ihre Wünsche, ihre Mühe, ihr Geld jagen rastlos, und wonach? nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuss der Welt, nach dem Mitgefühl seiner selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen.
Was beunruhiget die Menschen, als dass sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden können, dass der Genuss sich ihnen unter den Händen wegstiehlt, dass das Gewünschte zu spät kommt und dass alles Erreichte und Erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnen lässt. Gleichsam