Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Ehrhard BahrЧитать онлайн книгу.
versetzt, und ein Notarius hatte den Auftrag von der Direktrice erhalten, unter gewissen Bedingungen, wenn sich Liebhaber fänden, in den Verkauf aus freier Hand zu willigen. Melina wollte die Sachen besehen und zog Wilhelmen mit sich. Dieser empfand, als man ihnen die Zimmer eröffnete, eine gewisse Neigung dazu, die er sich jedoch selbst nicht gestand. In so einem schlechten Zustande auch die geklecksten Dekorationen waren, so wenig scheinbar auch türkische und heidnische Kleider, alte Karikaturröcke für Männer und Frauen, Kutten für Zauberer, Juden und Pfaffen sein mochten, so konnt’ er sich doch der Empfindung nicht erwehren, dass er [133]die glücklichsten Augenblicke seines Lebens in der Nähe eines ähnlichen Trödelkrams gefunden hatte. Hätte Melina in sein Herz sehen können, so würde er ihm eifriger zugesetzt haben, eine Summe Geldes auf die Befreiung, Aufstellung und neue Belebung dieser zerstreuten Glieder zu einem schönen Ganzen herzugeben. »Welch ein glücklicher Mensch«, rief Melina aus, »könnte ich sein, wenn ich nur zweihundert Taler besäße, um zum Anfange den Besitz dieser ersten theatralischen Bedürfnisse zu erlangen. Wie bald wollt’ ich ein kleines Schauspiel beisammen haben, das uns in dieser Stadt, in dieser Gegend gewiss sogleich ernähren sollte.« Wilhelm schwieg, und beide verließen nachdenklich die wieder eingesperrten Schätze.
Melina hatte von dieser Zeit an keinen andern Diskurs als Projekte und Vorschläge, wie man ein Theater einrichten und dabei seinen Vorteil finden könnte. Er suchte Philinen und Laertes zu interessieren, und man tat Wilhelmen Vorschläge, Geld herzuschießen und Sicherheit dagegen anzunehmen. Diesem fiel aber erst bei dieser Gelegenheit recht auf, dass er hier so lange nicht hätte verweilen sollen; er entschuldigte sich und wollte Anstalten machen, seine Reise fortzusetzen.
Indessen war ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender geworden. In allem seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares. Es ging die Treppe weder auf noch ab, sondern sprang; es stieg auf den Geländern der Gänge weg, und eh man sich’s versah, saß es oben auf dem Schranke und blieb eine Weile ruhig. Auch hatte Wilhelm bemerkt, dass es für jeden eine besondere Art von Gruß hatte. Ihn grüßte sie, seit einiger Zeit, mit über die Brust geschlagenen Armen. Manche Tage war sie ganz stumm, zu [134]Zeiten antwortete sie mehr auf verschiedene Fragen, immer sonderbar, doch so, dass man nicht unterscheiden konnte, ob es Witz oder Unkenntnis der Sprache war, indem sie ein gebrochnes, mit Französisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach. In seinem Dienste war das Kind unermüdet und früh mit der Sonne auf; es verlor sich dagegen abends zeitig, schlief in einer Kammer auf der nackten Erde und war durch nichts zu bewegen, ein Bette oder einen Strohsack anzunehmen. Er fand sie oft, dass sie sich wusch. Auch ihre Kleider waren reinlich, obgleich alles fast doppelt und dreifach an ihr geflickt war. Man sagte Wilhelmen auch, dass sie alle Morgen ganz früh in die Messe gehe, wohin er ihr einmal folgte und sie in der Ecke der Kirche mit dem Rosenkranze knien und andächtig beten sah. Sie bemerkte ihn nicht; er ging nach Hause, machte sich vielerlei Gedanken über diese Gestalt und konnte sich bei ihr nichts Bestimmtes denken.
Neues Andringen Melinas um eine Summe Geldes, zur Auslösung der mehr erwähnten Theatergerätschaften, bestimmte Wilhelmen noch mehr, an seine Abreise zu denken. Er wollte den Seinigen, die lange nichts von ihm gehört hatten, noch mit dem heutigen Posttage schreiben; er fing auch wirklich einen Brief an Wernern an und war mit Erzählung seiner Abenteuer, wobei er, ohne es selbst zu bemerken, sich mehrmal von der Wahrheit entfernt hatte, schon ziemlich weit gekommen, als er, zu seinem Verdruss, auf der hintern Seite des Briefblatts schon einige Verse geschrieben fand, die er für Madame Melina aus seiner Schreibtafel zu kopieren angefangen hatte. Unwillig zerriss er das Blatt und verschob die Wiederholung seines Bekenntnisses auf den nächsten Posttag.
[135]Siebentes Kapitel
Unsre Gesellschaft befand sich abermals beisammen, und Philine, die auf jedes Pferd, das vorbeikam, auf jeden Wagen, der anfuhr, äußerst aufmerksam war, rief mit großer Lebhaftigkeit: »Unser Pedant! Da kommt unser allerliebster Pedant! Wen mag er bei sich haben?« Sie rief und winkte zum Fenster hinaus, und der Wagen hielt stille.
Ein kümmerlich armer Teufel, den man an seinem verschabten, graulich-braunen Rocke und an seinen übel konditionierten Unterkleidern für einen Magister, wie sie auf Akademien zu vermodern pflegen, hätte halten sollen, stieg aus dem Wagen und entblößte, indem er Philinen zu grüßen den Hut abtat, eine übel gepuderte, aber übrigens sehr steife Perücke, und Philine warf ihm hundert Kusshände zu.
So wie sie ihre Glückseligkeit fand, einen Teil der Männer zu lieben und ihre Liebe zu genießen, so war das Vergnügen nicht viel geringer, das sie sich so oft als möglich gab, die Übrigen, die sie eben in diesem Augenblicke nicht liebte, auf eine sehr leichtfertige Weise zum Besten zu haben.
Über den Lärm, womit sie diesen alten Freund empfing, vergaß man, auf die Übrigen zu achten, die ihm nachfolgten. Doch glaubte Wilhelm, die zwei Frauenzimmer und einen ältlichen Mann, der mit ihnen hereintrat, zu kennen. Auch entdeckte sich’s bald, dass er sie alle drei vor einigen Jahren bei der Gesellschaft, die in seiner Vaterstadt spielte, mehrmals gesehen hatte. Die Töchter waren seit der Zeit herangewachsen, der Alte aber hatte sich wenig verändert. Dieser spielte gewöhnlich die gutmütigen, polternden Alten, wovon das deutsche Theater nicht leer wird und die man auch [136]im gemeinen Leben nicht selten antrifft. Denn da es der Charakter unsrer Landsleute ist, das Gute ohne viel Prunk zu tun und zu leisten, so denken sie selten daran, dass es auch eine Art gebe, das Rechte mit Zierlichkeit und Anmut zu tun, und verfallen vielmehr, von einem Geiste des Widerspruchs getrieben, leicht in den Fehler, durch ein mürrisches Wesen ihre liebste Tugend im Kontraste darzustellen.
Solche Rollen spielte unser Schauspieler sehr gut, und er spielte sie so oft und ausschließlich, dass er darüber eine ähnliche Art sich zu betragen im gemeinen Leben angenommen hatte.
Wilhelm geriet in große Bewegung, sobald er ihn erkannte; denn er erinnerte sich, wie oft er diesen Mann neben seiner geliebten Mariane auf dem Theater gesehen hatte; er hörte ihn noch schelten, er hörte ihre schmeichelnde Stimme, mit der sie seinem rauen Wesen in manchen Rollen zu begegnen hatte.
Die erste lebhafte Frage an die neuen Ankömmlinge, ob ein Unterkommen auswärts zu finden und zu hoffen sei, ward leider mit Nein beantwortet, und man musste vernehmen, dass die Gesellschaften, bei denen man sich erkundigt, besetzt und einige davon sogar in Sorgen seien, wegen des bevorstehenden Krieges auseinandergehen zu müssen. Der polternde Alte hatte mit seinen Töchtern, aus Verdruss und Liebe zur Abwechselung, ein vorteilhaftes Engagement aufgegeben, hatte mit dem Pedanten, den er unterwegs antraf, einen Wagen gemietet, um hieherzukommen, wo denn auch, wie sie fanden, guter Rat teuer war.
Die Zeit, in welcher sich die Übrigen über ihre Angelegenheiten sehr lebhaft unterhielten, brachte Wilhelm nachdenklich zu. Er wünschte den Alten allein zu sprechen, [137]wünschte und fürchtete, von Marianen zu hören, und befand sich in der größten Unruhe.
Die Artigkeiten der neu angekommenen Frauenzimmer konnten ihn nicht aus seinem Traume reißen; aber ein Wortwechsel, der sich erhub, machte ihn aufmerksam. Es war Friedrich, der blonde Knabe, der Philinen aufzuwarten pflegte, sich aber diesmal lebhaft widersetzte, als er den Tisch decken und Essen herbeischaffen sollte. »Ich habe mich verpflichtet«, rief er aus, »Ihnen zu dienen, aber nicht allen Menschen aufzuwarten.« Sie gerieten darüber in einen heftigen Streit. Philine bestand darauf, er habe seine Schuldigkeit zu tun, und als er sich hartnäckig widersetzte, sagte sie ihm ohne Umstände, er könnte gehn, wohin er wolle.
»Glauben Sie etwa, dass ich mich nicht von Ihnen entfernen könne?« rief er aus, ging trotzig weg, machte seinen Bündel zusammen und eilte sogleich zum Hause hinaus. »Geh, Mignon«, sagte Philine, »und schaff uns, was wir brauchen; sag es dem Kellner und hilf aufwarten!«
Mignon trat vor Wilhelm hin und fragte in ihrer lakonischen Art: »Soll ich? darf ich?«, und Wilhelm versetzte: »Tu, mein Kind, was Mademoiselle dir sagt.«
Das Kind besorgte alles und wartete den ganzen Abend mit großer Sorgfalt den Gästen auf. Nach Tische suchte Wilhelm mit dem Alten einen Spaziergang allein zu machen; es gelang ihm, und nach mancherlei Fragen, wie es ihm bisher gegangen, wendete sich das Gespräch auf die ehemalige Gesellschaft, und Wilhelm wagte zuletzt nach Marianen zu fragen.
»Sagen Sie mir nichts von dem abscheulichen Geschöpf!«