Die ganze Geschichte. Yanis VaroufakisЧитать онлайн книгу.
hatte. Er entschuldigte sich sofort, verwies auf »Stress« und den »schlechten Einfluss« von Medienberichten, ich würde für Soros arbeiten. Ich sagte, dass ich seine Entschuldigung akzeptierte, aber tief im Inneren wusste ich, dass Stournaras den Rubikon überschritten hatte und in ein Gebiet gelangt war, von wo es keine Brücke mehr zwischen uns geben konnte.
Wenige Tage später, nachdem die Wahl im Juni 2012 Antonis Samaras mit einer Koalitionsregierung ins Amt gespült hatte, hörte ich in den Nachrichten, dass Stournaras der nächste technokratische – nicht gewählte – Finanzminister des Landes sein sollte. Er blieb zwei Jahre im Amt und nutzte die Zeit, um die Bedingungen des zweiten Rettungspakets so treu umzusetzen, wie er konnte – tatsächlich so, dass die gnadenlose Austerität in aufeinanderfolgenden Wellen von Einschnitten und Steuererhöhungen die Rezession beschleunigte und schließlich die Regierung Samaras destabilisierte. Nicht einmal zwei Jahre nach seinem Wahlsieg, bei der Wahl des Europäischen Parlaments im Mai 2014, erhielt Samaras’ Nea Dimokratia weniger Stimmen als Syriza, und danach fiel sie in den Umfragen immer weiter zurück. Einen Monat später lief die Amtszeit des Gouverneurs der griechischen Zentralbank aus, und Samaras nutzte die Gelegenheit, um Stournaras zu ernennen. Sollten die Parteien des Establishments die nächste Wahl verlieren, hatten sie wenigstens jemanden in der Zentralbank, der willens und in der Lage war, einer künftigen Syriza-Regierung Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Und genau das tat Stournaras dann auch.
Wie sich herausstellte, war in dem Hotelcafé, in dem wir uns im April 2012 getroffen hatten, unsere Freundschaft zu Ende gegangen.
Erfolgsgeschichte
Während Stournaras sich im heißen Sommer des Jahres 2012 im Finanzministerium einrichtete, versuchten die EU und der IWF, selbst ein schwieriges Problem zu lösen. Die Auszahlung der Kredite im Rahmen des zweiten Rettungspakets hatte sich wegen der beiden Wahlen in Griechenland verzögert und konnte nicht vor Herbst beginnen. Leider musste Athen bis zum 20. August knapp 3,5 Milliarden Euro an die EZB überweisen, eine von vielen Schuldentilgungen, die es nicht leisten konnte. Wie sollte das gehen, wenn die Tresore leer waren?
Wenn die Troika etwas will, findet sie auch einen Weg. Und das war der Trick, mit dem sie die notwendige Illusion erzeugte; ich schildere ihn in Zeitlupe, damit die Leser die magischen Schritte gut nachvollziehen können:
• Die EZB gewährte Griechenlands bankrotten Banken das Recht, neue Schuldverschreibungen mit einem Nominalwert von 5,2 Milliarden Euro auszugeben – wertloses Papier, da die Tresore der Banken leer waren.
• Weil kein vernünftiger Mensch diese Schuldverschreibungen kaufen würde, trugen die Banker sie zu Finanzminister Stournaras, der das Kupfersiegel des bankrotten Staates als Garantie daraufdrückte – tatsächlich eine nutzlose Geste, da ein bankrottes Gebilde (der Staat) nicht ernsthaft für die Schuldverschreibung eines anderen bankrotten Gebildes (die Banken) geradestehen kann.
• Die Banker trugen ihre wertlosen Schuldverschreibungen danach zur Zentralbank von Griechenland, die natürlich ein Ableger der EZB ist, und hinterlegten sie als Sicherheit für neue Kredite.
• Die Eurogruppe gab daraufhin der EZB grünes Licht, der griechischen Zentralbank zu erlauben, dass sie die Schuldverschreibungen als Sicherheiten akzeptierte und im Gegenzug den Banken echtes Geld aushändigte, in Höhe von 70 Prozent des Nominalwerts der Schuldverschreibungen (das heißt etwas mehr als 3,5 Milliarden Euro).
• Unterdessen gaben die EZB und die Eurogruppe Stournaras’ Finanzministerium grünes Licht für die Ausgabe neuer Staatsanleihen mit einem Nominalwert von 3,5 Milliarden Euro – das heißt für Schuldverschreibungen des Staates, die in Anbetracht der leeren Staatskassen natürlich kein Investor, der bei Sinnen war, anfassen würde.
• Die Banker gaben die 3,5 Milliarden, die sie von der griechischen Zentralbank erhalten hatten – de facto von der EZB selbst –, wieder aus, als sie ihre eigenen wertlosen Schuldverschreibungen verpfändeten, um die ebenfalls wertlosen Schuldverschreibungen des Staates zu kaufen.
• Und zuletzt nahm der griechische Staat diese 3,5 Milliarden und bezahlte damit … die EZB!
Solche einfallsreichen Volten trieben die Logik von Art und Conn zu neuen Höhenflügen. Dahinter verblassen die Gaunereien, die Bankern von der Wall Street weltweite Verachtung eintrugen. Und Walter Scotts berühmter Ausspruch bekommt eine ganz neue Dimension: »Oh, welch verworren Netz wir weben / wenn wir nach Trug und Täuschung streben!« Wie hätte man der Welt ohne ein solches verworrenes Netz vorgaukeln können, dass Griechenland solvent und nun auf dem Weg der Besserung war, nachdem die Griechen die richtige Regierung ins Amt gewählt hatten? Aber kaum war das eine Netz fertig, brauchte man schon ein weiteres.
Während all das passierte, setzten IWF-Mitglieder außerhalb Europas – Länder wie Brasilien, Indien, Japan und Malaysia – Christine Lagarde unter Druck, die Scharade zu beenden und insbesondere Berlin zu sagen, dass der IWF ohne eine Umschuldung Griechenlands nicht mehr mitmachen würde. Im Herbst 2012, als das zweite Rettungspaket beschlossen wurde, enthüllte Lagarde in einem bemerkenswerten Schritt, wie stark der Druck geworden war: Sie schlug Stournaras vor, gemeinsam in die Eurogruppe zu gehen und vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble einen drastischen Schuldenschnitt für Griechenland zu verlangen.
Doch statt diese einzigartige Gelegenheit zu ergreifen und ein Bündnis mit dem IWF zu schmieden, informierte Stournaras Schäuble von Lagardes Vorschlag, gemeinsame Sache zu machen, und bat um seine Erlaubnis, zustimmen zu dürfen. Natürlich sagte Schäuble zu Stournaras, er solle »es vergessen«. Und genau das tat Stournaras dann auch.26
Zu der Zeit nahm ich zufällig an einer Bankenkonferenz in den Vereinigten Staaten teil. Dort lief ich einem hohen Tier vom IWF über den Weg. »Was hat er [Stournaras] sich bloß gedacht?«, fragte mich der IWF-Mitarbeiter wütend. »Haben diese Burschen eine bessere Idee, wie man das regeln kann? Gibt es einen Plan? Ich verstehe es einfach nicht.«
Sie hätten einen Plan, teilte ich ihm mit. Nur sah der Plan vor, in der Regierung zu bleiben unter dem Vorwand, das Land befinde sich auf dem Weg der Besserung. Der Codename für den Plan lautete (so stelle ich es mir jedenfalls vor): Griechische Erfolgsgeschichte.
Die Griechische Erfolgsgeschichte bestand aus vier Akten: dem Merkel-Boom, der spekulativen Blase, der EZB-Verkaufsoption und der angeblichen Umschuldung. Der erste Teil, der Merkel-Boom, war bereits im Gang. Im September 2012 hatte Kanzlerin Merkel auf Anregung des EZB-Präsidenten Mario Draghi und wahrscheinlich auch von Beijing auf dem Weg von China nach Berlin einen Stopp in Athen eingelegt.27 In den wenigen Stunden ihres Aufenthalts klopfte sie Ministerpräsident Samaras auf die Schulter und signalisierte damit den internationalen Medien, dass der Grexit vom Tisch war und dass Griechenland, nachdem es die richtige Regierung gewählt hatte, in der Eurozone bleiben durfte.
Das kurze Theaterstück reichte aus, um eine Minirally bei den griechischen Immobilienpreisen zu erzeugen, die im Mai und Juni 2012 abgestürzt waren, als alle Welt angesichts des Aufstiegs von Syriza und des Patts im Parlament über den Grexit spekuliert hatte. Wie bereits erklärt, wären nach einem Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone alle Preise in Drachmen neu festgesetzt worden, die Drachme wäre sofort eingebrochen, und dadurch hätten Aktien, Villen und Jachten erheblich an Wert verloren. Aber die Märkte haben eine Tendenz zur Überreaktion. Wenn sie fallen, fallen sie übermäßig stark, und bei guten Nachrichten schießen sie unvernünftig in die Höhe. Der Merkel-Boom war ein Beispiel dafür: Ein Markt, der fast schon tot war, erlebte auf einmal in irrationalem Überschwang einen Höhenflug.
Der zweite Punkt des Plans, natürlich ebenfalls abgesegnet von der Troika, sah vor, den Überschwang mittels einer Spekulationsblase rund um die griechischen Banken richtig anzuheizen. Die Idee dahinter war einfach. Weil die Investoren dank des Merkel-Booms Griechenland für ein unterbewertetes Investment hielten, würde die Regierung ihnen ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnten: Wenn sie jetzt Anteile an Griechenlands bankrotten Banken kauften, würden sie in der Zukunft, wenn deren Preise weiter gestiegen wären, weitere Anteile zum ursprünglichen niedrigen Preis bekommen, und wenn die Preise fallen sollten, würden die griechischen Steuerzahler großzügig die Verluste tragen. Welcher