Stumme Schreie. Martin FleschЧитать онлайн книгу.
der Aufnahmeeinrichtung wieder schildern zu müssen. Denn oft stellt sich ihnen die Angst einfach in den Weg.
Gerade in diesen Situationen holt den Flüchtling die furchtbare Situation wieder ein. Kann er im selben Moment, jetzt, gegenwärtig, in diesem Augenblick überhaupt davon sprechen? Wird ihm nicht wieder, wie schon so oft, gerade jetzt, wo alles Gesagte zählt und über Akzeptanz oder Ablehnung seines Flüchtlingsberichtes entscheiden wird, die Stimme vor Angst versagen?
Jene Angst, mit welcher er schon seit Monaten zu kämpfen hat, die ihn nachts immer wieder aufsucht, die er gegenüber seinen Familienmitgliedern verschweigt, die es ihm verunmöglicht, dem dokumentierenden und kurz und knapp nachfragenden Beamten der Asylbehörde Rede und Antwort zu stehen?
Ahmad aus Afghanistan berichtete beispielsweise später in der ärztlichen Sprechstunde, „wie auf Knopfdruck“ habe alles gehen müssen. Er habe keine Zeit gehabt, Gefühle sprechen zu lassen, alles zu rekapitulieren, die richtige Formulierung zu finden. Wer wisse schon, was er da auf dem Weg von Afghanistan nach Deutschland erlebt habe, wer könne das wirklich beurteilen. Man sei stets nur an harten Fakten interessiert. Die kleinsten Unregelmäßigkeiten im Fluchtbericht würden angezweifelt und damit seine gesamte Glaubwürdigkeit.
Der Flüchtling und seine Angst. Mit ihr bleibt er häufig alleine zurück, immun gegenüber den Familienmitgliedern, den ihn umgebenden Migranten, den ehrenamtlichen Helfern, den Ärzten.
Treffend berichtete Ahmad weiter von seinen Gefühlsabdrücken, die ihn über Monate aus der Bahn warfen:
„Angst kann nur ganz persönlich und existenziell erlebt werden. Niemand kann sie so verspüren wie Du selbst. Angst hat viele Facetten, wird bedrohlich und reißt Dich aus allen Bezügen.
Angst nimmt Dir die Hoffnung, zieht Dir den Boden unter den Füßen weg, zieht Dich in ein Loch.
Es beginnt oft mit einem dumpfen Gefühl, gefolgt von dem Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, Du zitterst, erst an den Händen, dann an den Armen, dann am ganzen Körper, Du schläfst kaum und bekommst Alpträume …“
Nur der Blick auf den Einzelfall, die Hinwendung zum Einzelschicksal vermag uns das tatsächliche Ausmaß der seelischen Zustände von Geflüchteten vermitteln, die einst auszogen, um Grenzen zu überwinden und irgendwo anzukommen, einfach um der Angst zu weichen.
Der Perspektivenwechsel führt zur Entmystifizierung des Einzelfalles …!
Folter (Moussa)
Syrien
V.Kasuistik 2: Folter (Moussa) – Syrien
„Man muss etwas riskieren …, Menschlichkeit ohne Kompromisse …!“
Rupert Neudeck, 2015 1
Die blühenden Haine der Kindheit liegen noch sehnsuchtsvoll im Gedächtnis. Die Kindheit verlief geborgen. In Raqua, in Syrien, wird Moussa im Mai 1998 als ältester Sohn geboren. Der 25-jährige Vater arbeitet für ein Fuhrunternehmen, die 20-jährige Mutter, die bis dahin keinen Beruf erlernte, plant eine große Familie. Sechs weitere Geschwister werden folgen, das jüngste Kind wird 2015 geboren werden.
Heute leben die Familienmitglieder verstreut in Griechenland, Kroatien, Österreich und Deutschland.
Im Jahr 1998, Ende des Jahrtausends, sind die Verhältnisse in Syrien noch in Ordnung, zumindest weitestgehend. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wächst Moussa wohlbehütet auf, erlebt in Fürsorge und Wandel die Vergrößerung seiner Familie. Die ersten Schuljahre verlaufen unkompliziert, das Lernen fällt ihm leicht, Freunde gibt es reichlich, die Welt und das Leben fühlen sich stimmig und abgerundet an. Eine unbeschwerte Jugend kündigt sich an.
Erste Herausforderungen folgen. Freundschaften werden geschlossen, Jugendbanden bilden sich, erproben sich in der aufkeimenden Männlichkeit, Rivalen werden besiegt oder man fügt sich der Konkurrenz. Moussa ist jetzt 13 Jahre alt.
Die Jugendlichen, welche sich die letzten Tage wiederholt im Dorf aufhalten, fallen dem Jungen auf. Er wird angesprochen, denkt sich nichts, auch die Freunde werden kontaktiert. Man geht zur Tagesordnung über.
Dann kommt der Tag, der Moussas Leben von Grund auf verändern wird. Später berichtet er dem psychiatrischen Gutachter in der Justizvollzugsanstalt vor seinem Gerichtsverfahren, ab diesem Zeitpunkt sei seine Seele „stückweise gebrochen“ worden.
Doch der Reihe nach. An diesem Morgen im Jahr 2012 geht Moussa in den nahegelegenen Supermarkt des Dorfes. Nach dem Einkauf, noch auf dem anliegenden Parkplatz, treten die jungen Männer an ihn heran. Einige erkennt er noch, es sind die gleichen Personen, die ihn im Dorf angesprochen haben.
Sie sprechen ihn kaum an, bedrängen ihn, machen sich einen Spaß aus seiner Angst. Zu Hause berichtet er nichts von dem Vorfall, er schämt sich und ängstigt sich zugleich. Die Eltern haben andere Sorgen.
Wenige Tage später ereignet sich das gleiche Szenerio, Moussa hofft, sie würden nicht mehr in Erscheinung treten, aber er irrt sich.
Sie bedrängen ihn erneut, in diesem Fall geht es nicht glimpflich aus. Sie nehmen ihn mit, zwingen ihn in ein Auto, er sieht nichts mehr. An einem ihm unbekannten Ort halten sie an, er erkennt eine verfallene Lagerhalle. Sie setzen ihn auf einen Stuhl, binden ihn fest. Jetzt erkennt er die Gruppe besser, es sind Männer, zwischen zehn und 15 an der Zahl. Einige schätzt er auf 20 bis 25 Jahre, einige sind älter, manche wohl auch über 40 Jahre alt. Sie fixieren seinen Arm, stauen ihm die Venen und applizieren ihm eine Spritze unbekannten Inhaltes. Die Substanz wirkt rasch, eine Benommenheit bemächtigt sich seiner, er wird schläfrig, verliert aber nicht das Bewusstsein.
Dann schlagen sie ihn, auf Arme, Beine und gegen die Schultern, dann auch ins Gesicht. Immer wieder hört er die Worte:
„Wenn Du nicht mitmachst, vergewaltigen wir Deine jüngere Schwester!“
Er fügt sich. Dann vergewaltigen sie ihn, drohen ihm, vergewaltigen ihn wieder.
Seine Seele bricht, aber sie zerbricht nicht. Moussa bewahrt sich den Überlebenswillen und den innersten Kern seines Seins.
Zu einem späteren Zeitpunkt, kurz vor seiner Flucht, wird Moussa dann erkennen, dass die Tätergruppe ihm wohl wiederholt Schmerzmittel, Beruhigungsmittel und auch Drogen verabreicht haben müsse. Er hört auch von anderen Betroffenen, dass diese in vergleichbaren Fällen Opium, Cannabis und Heroin appliziert bekommen hätten, auch möglicherweise andere Drogen. Durch die zahlreichen Applikationen sei höchstwahrscheinlich die Basis für die spätere Drogenabhängigkeit entstanden, so argumentiert er gegenüber dem Gutachter später in der Justizvollzugsanstalt. Diese Zusammenhänge benennt er erst in Deutschland, als es schon zu spät ist.
Das grausame Prozedere wiederholt sich. Mehrfach, über Wochen, wird er abgeholt, festgebunden, gefoltert, freigelassen, unter stets aufrechterhaltenen Drohungen. Er kann nicht reden, kann sich niemandem in der Familie mitteilen, Moussa verstummt.
Schließlich fliegt die Gruppe auf, Freunde der Eltern kommen hinter die Strukturen der von der Gruppierung „Islamischer Staat“ (IS) angeheuerten Männer. Vorerst ist das Grauen zu Ende. Aber nur auf eine Weise.
Nunmehr wird Moussa von Vorwürfen überhäuft. Der Vater schimpft, droht ihm, wertet ihn ab, demütigt ihn. Der Vater lässt ihn unaufhörlich wissen, dass Moussa ihn entehrt habe. Er habe nun einen missbrauchten Sohn, wie er das habe zulassen können, wieso er sich nicht an ihn gewandt habe? Es sei eine Schande für die Familie.
Der Vater zeigt den Sachverhalt an, bei der zuständigen Polizeibehörde, die auch die politische Richtung des Landes unterstützt. Man merkt sich die Familie, ihren Namen, ihre Struktur.
Dann ändern sich die politischen Verhältnisse. Der IS nähert sich Raqua, es kommt zur feindlichen Übernahme. Nachdem sich auch die örtlichen