Eine kurze Geschichte des systemischen Denkens. Wolfram LuttererЧитать онлайн книгу.
symmetrische Komponente mit aufweist, verdient er noch eine etwas intensivere Betrachtung. Die Erkundung dialektischer Prozesse ist innerhalb von Hegels Philosophie ein zentrales Element.
Was aber ist unter Dialektik zu verstehen? Zunächst einmal handelt es sich bei ihr um die antike Kunst der Gesprächsführung – also ganz ähnlich wie bei Sokrates. Bei Hegel wird der Begriff weiterentwickelt und zu einem bestimmenden Moment seines Denkens. Bei ihm handelt es sich dabei um einen Prozess, dessen Dynamik sich immer weiter sich vorwärtstreibt, indem (so zumindest die Erwartung) Argument und Gegenargument bzw. »These« und »Antithese« zu einer Einsicht höherer Ordnung, zu einer »Synthese« führen. Dieser dynamische Prozess endet bei Hegel schließlich beim »Weltgeist«, einer allumfassenden Idee einer sich entfaltenden Vernunft.
Hegels Idee eines Weltgeists war für die Philosophen nach ihm Grund genug, seinen Entwurf als gescheitert zu erklären. An vorderster Stelle stand damals im Übrigen Karl Marx, dessen Materialismus allerdings Hegel mehr verdankte, als es zuweilen erscheinen mag. Für Marx betrieb Hegel jedenfalls ein bloßes Spiel mit Ideen, denen das materielle Fundament verloren gegangen sei. Für ihn stand Hegels Denken »auf dem Kopf«44. Mit der Hinwendung des Blicks auf die materiellen Verhältnisse – Hegels Knecht wurde dabei zum Proletarier, der Herr zum Bourgeois bzw. zum kapitalistischen Ausbeuter – versuchte Marx zugleich eine Wiederbelebung der Idee der Dialektik. Dies wiederum löste später seinerseits insbesondere im Sozialismus eine reichlich sonderbare Dynamik aus. Im verzweifelten Kampf darum, die soziale Wirklichkeit mit dem Ideenleben der marxschen Theorie in Einklang zu bringen, erzeugten sozialistische Gedankengebäude immer fantasiereichere Wirklichkeits-Wegerklärungen, bis dann schließlich George Orwell in der Farm der Tiere mit Blick auf die Sowjetunion ironisierend feststellte: »Alle Tiere sind gleich. Aber manche sind gleicher als die anderen.«
Trotz all der Schwierigkeiten von immer weiter sich nach oben schraubenden Syntheseketten lohnt sich ein vertiefter Blick in die Dialektik von Hegel. Zunächst, weil sie eine grundsätzlich wertschätzende Wahrnehmung von Aussagen beinhaltet: Zwar werden in einer Synthese die zuvorigen Thesen reflektiert und integriert, zugleich aber werden sie bewahrt und »aufgehoben«, d. h. weiterhin als kontextuell gültig anerkannt, wenn auch in ein höheres Ganzes integriert.45 Des Weiteren macht sich Hegels Dialektik immerhin die Mühe, zwischen widersprüchlichen Aussagen zu vermitteln, was bis heute nicht unbedingt für alle selbstverständlich zu sein scheint. An dieser Stelle kommt im Übrigen auch Marx nicht wirklich weiter: Anstelle der Herrschaft des Kapitals fordert er die Herrschaft des Proletariats. An der Idee einer einseitigen Herrschaft wird nicht wirklich gerüttelt.
Für Hegel wiederum ist das Recht weder auf der einen noch auf der anderen Seite, es ist dazwischen oder, besser noch: darüber. Hegel eröffnet zumindest die Hoffnung, dass auf einer höheren Ebene der Reflexion neue Einsichten möglich werden.
Um von diesen philosophischen Höhenflügen wieder zurückzukehren: Ich denke, dass wir heute diese Prozesse sicherlich etwas anders interpretieren würden. So erwarten wir nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie noch Hegel, dass sich widersprechende Argumente auf höherer Stufe einfach aufheben und neu zusammenfügen lassen. Ganz im Gegenteil, es spricht einiges dafür, dass es heute eher als Tugend anzusehen ist, Widersprüche erst einmal zu ertragen und als solche zu akzeptieren und nicht sogleich auf eine heilbringende »Aufhebung« oder gar Auflösung im Sinne einer »höheren Wahrheit« zu spekulieren oder wahlweise die Ideen bis hin zum Leben der anderen auszulöschen.
Insbesondere im Kontext von Therapie und Beratung dürfte dies sowieso das Mittel der Wahl sein: Die unterschiedlichen Weisen der Welterzeugung sind erst einmal in eben ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und zu verstehen. Es liegt in der Verantwortung des Einzelnen selbst, was er denkt und diese Verantwortung ist ernst zu nehmen. Fragen dieser Art werden später insbesondere von Heinz von Foerster weiterverfolgt.
In diesem Sinne entspräche jedenfalls Hegels Erwartung einer alles vermittelnden Synthese letztlich einer Art »Alles-wird-gut«-Mentalität, welche heute, vor unserer komplexen Wirklichkeit, eher als utopisch-romantisierend, wenn nicht gar als naiv erscheint. Zumindest mir wäre es daher lieber, wenn wir (infolge von Hegels Dialektik) vermehrt versuchen würden, Spannungsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Vorstellungen erst einmal auszuhalten und sich nicht gleich für das Bessere oder Einfachere oder was auch immer zu entscheiden. Denn gerade an dieser Stelle könnten systemisches ebenso wie dialektisches Denken durchaus in totalitäre Denkmuster einmünden. Dann haben wir wieder die eine Wahrheit – und das mit und nach Auschwitz.
Die andere Variante hierzu, nämlich sich jeglicher Form der Auseinandersetzung durch die alltagspraktische Lust auf Vereinfachung (»Die anderen sind schuld«, »Das ist doch gar nicht so«) zu entziehen, führt dabei auch nicht weiter, selbst wenn sie sich zuweilen sogar wissenschaftlich zu adeln versucht in Gestalt der Doktrin der Übervereinfachung bzw. des »Reduktionismus«.
Von Hegels Denken bleibt jedenfalls die Anerkennung sozialer Verhältnisse als zueinander unterschiedliche und sich wechselseitig bedingende. Im Kontext systemischer Denkansätze würden wir heute wohl eher versuchen, Unterschiede in Gestalt dynamischer Spannungsverhältnisse weiterzudenken, anstatt auf den großen versöhnenden Ausgleich zu hoffen. Hegel, als Wegbereiter der modernen Dialektik, hat damit jedenfalls einen verdienten Platz in unserer systemischen Ahnengalerie gewonnen. Im Rahmen der systemischen Therapie wurde er im Übrigen insbesondere duch Helm Stierlin ausführlicher rezipiert.46
Missklänge (Friedrich Nietzsche)
Dieser kurze Rundgang durch die Neuzeit endet mit Friedrich Nietzsche (1844–1900). Nach ihm beginnt – Zufall oder nicht – die Moderne. Geboren wurde Nietzsche etwa 70 Jahre nach Hegel, in Röcken in Sachsen-Anhalt. Er lehrte zunächst Philosophie in Basel, erkrankte dann aber psychisch schwer, litt unter Wahnvorstellungen und starb schließlich im Kreis seiner Familie in Weimar.
Eine der großen Ideen, die Nietzsche entwickelte, besteht in der »Umwertung aller Werte«. Gehört er damit ebenfalls zum Kreis der frühen Konstruktivisten? Auf den ersten Blick zumindest könnte man das meinen. Ein gewisser Differenzierungsschritt erscheint an dieser Stelle jedoch angebracht: Im Sinne einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie ist natürlich jeder Mensch – und somit jeder Denker – ein Konstruktivist, indem er denkt, handelt und Weltwahrnehmungen aufbaut. Für Konstruktivisten jedweder Richtung stellen Theorien jeglicher Art notwendigerweise einen Akt der Konstruktion dar. Sie sind damit weder »gottgegeben« noch »wahr« (selbst wenn sie das in Anspruch nehmen sollten), noch stellen sie ein exaktes Abbild der Natur (oder wovon auch immer) dar.
Die Frage wäre somit etwas genauer zu formulieren: Beinhaltet Nietzsches Denken Merkmale einer konstruktivistischen Grundhaltung? Dann aber fällt die Antwort etwas schwerer. Bei Nietzsche finden sich nämlich durchaus Anfänge eines konstruktivistischen Weltverständnisses, insbesondere wenn er althergebrachte Weisen der Wirklichkeitskonstruktion infrage stellt. Allerdings: Letztendlich beharrt und verharrt er trotz wiederholt großer Geste in einem reichlich konventionell anmutenden Anspruch eines »Besserwissens«. Im leider ironiefreien O-Ton von Nietzsche lautet dies beispielsweise so: »Warum ich so weise bin«.47
Mit seiner Idee einer »Umwertung aller Werte« betreibt Nietzsche jedoch zunächst einmal ein durchaus vielversprechendes Unternehmen. Eine Reflexion auf Werte und Wertvorstellungen, das macht natürlich neugierig. Doch was meint er genauer? Nietzsche setzt hierbei interessanterweise bei einem ganz ähnlichen Punkt ein, den wir schon bei Hegel kennengelernt haben, nämlich erneut beim Verhältnis von Herrn und Knecht. Nur heißt dies bei Nietzsche dann – und das durchaus programmatisch: Herr und Sklave.
Die von ihm dabei formulierte Erkenntnis ist zunächst einmal die folgende: Der Gegensatz von »gut« und »schlecht« habe ursprünglich gar keine moralische Bedeutung gehabt, sondern sei vielmehr Ausdruck davon gewesen, dass sich die Mächtigen bzw. die »Höhergestellten« als die »Guten« bezeichneten, während sie all die »Niedrigen, Niedriggesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften« als »schlecht« bezeichneten.48 So weit, so gut. Gegen diese herabwürdigende