Systemische Lerntherapie. Mike LehmannЧитать онлайн книгу.
es spiegeln zu können in seinen Nöten, aber auch in seinen Bedürfnissen und seinen Erfolgserlebnissen ist das Wichtigste, das der Therapeut leisten können muss. Dies kann umso besser gelingen, je größer die Bandbreite der Erfahrungen des Therapeuten ist, weil diese eigenen Erfahrungen es erst ermöglichen, den anderen verstehen und sich in seine Wirklichkeit hineinversetzen zu können. Diese Empathiefähigkeit ist die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen einer zwischenmenschlichen Beziehung (Belege dafür liefert die neuere Hirnforschung, vgl. z. B. Joachim Bauer 2006). Die Beziehung zwischen Therapeut und Klient wiederum ist der bedeutendste Wirkfaktor in der Psychotherapie (Studien zu dieser Frage wurden z. B. von Grawe 2004, Grawe u. Grawe-Gerber 1999, Wampold et al. 2018, Duncan et al. 2010 sowie von Lambert 1992 durchgeführt). Dies ist genauso für die Lerntherapie anzunehmen, auch wenn sie keine Psychotherapie im engeren Sinne ist, da es bei beiden im Wesentlichen um die Begleitung eines Menschen geht.
Zwar ist unsere grundsätzliche Perspektive, dass in der lerntherapeutischen Arbeit hauptsächlich beim Umfeld des Kindes anzusetzen ist (bei Eltern, Geschwistern, Lehrern, Nachhilfelehrern, Freunden etc.). Gleichzeitig sind die Problematiken der Kinder jedoch individuell verschieden, ihre spezifischen bisherigen Lebens- und Lernerfahrungen werden sich immer unterscheiden und können sich auch innerhalb der Therapie verändern, ohne dass wir darauf bewusst Einfluss genommen hätten. Manche Kinder haben guten Zugang zu einem bestimmten Entspannungsverfahren und zu einem anderen nicht, zu bestimmten Bewegungsspielen oder -übungen usw. Daher sollte der Therapeut über eine Vielzahl von Techniken, Methoden, Spielen etc. verfügen, um bei der Intervention jeweils etwas Passendes auswählen zu können. Dabei kommt der Empathiefähigkeit eine wichtige Rolle zu, weil sie es ermöglicht, adäquat auf das jeweilige Kind und seine Situation reagieren zu können. Diese Beziehungsfähigkeit ist die wichtigste Voraussetzung, das heißt die Möglichkeit, eine tragfähige zwischenmenschliche Beziehung zum Kind herzustellen. Sie speist sich aus dem Reifegrad der Persönlichkeit, der Empathiefähigkeit und der Bereitschaft zur Selbstreflexion.
Therapeutische Arbeit kann umso besser gelingen, je besser man die eigenen Themen außen vor lassen kann (empfundene Unzulänglichkeiten, frühere Kränkungen, Bedürfnisse, Ängste, Vorurteile etc. – also insgesamt die Schattenseiten) oder zumindest je mehr man sich ihrer bewusst und in der Lage ist, sie vorübergehend auszuklammern. Kein Mensch ist perfekt, jeder hat an der ein oder anderen Stelle die Möglichkeit, an sich zu arbeiten – das gehört zu unserem Menschsein. Genau die Bereitschaft dazu ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, wenn ein Therapeutenberuf angestrebt wird.
Den Begriff Therapeut verstehen wir im ursprünglichen griechischen Sinne als »Diener« oder »Begleiter«. Als Begleiter auf dem Weg des Lebens, der Entwicklung und beim nächsten gerade anstehenden seelischen Reifungsschritt. Ganz entscheidend dafür ist die Fähigkeit, wahrzunehmen, was das Gegenüber gerade braucht, das heißt menschlich braucht, und darauf adäquat zu reagieren, das heißt, ihm beim Suchen und im besten Fall auch Finden zur Seite zu stehen.
1.2.3Therapeutisches Selbstverständnis
Wir befürworten eine therapeutische Haltung, die sich an den zentralen Forderungen des Begründers der Gesprächspsychotherapie, Carl Rogers (vgl. 1994), orientiert: Empathie, Wertschätzung und Authentizität. Über Empathie als wichtigste Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung haben wir im vorigen Abschnitt schon gesprochen. Durch die Wertschätzung des Klienten drückt der Therapeut auch eine Gleichwürdigkeit aus. Zwar besteht in der Therapeut-Klient-Beziehung immer eine durch die Rollen bedingte Ungleichheit, doch darf dies nicht zu Überlegenheitsgefühlen des Therapeuten führen - »Du hast das Problem, und ich habe die Lösung«. Vielmehr liegt in der Wertschätzung, die der Therapeut dem Klienten entgegenbringt, auch eine Akzeptanz seiner Andersartigkeit. Diese ist weder minder- noch höherwertig, sondern stellt lediglich eine andere Form des Seins dar, sodass das, was als problematisch erlebt wird, sowie auch die mögliche Lösung für das Problem aus Klientensicht anders erscheint als für den Therapeuten. Schließlich liegt im Erkennen des Wertes des anderen Menschen implizit auch das Zutrauen, dass er seine Lösungen selbst finden kann. Authentizität als dritte Forderung ist die Voraussetzung für eine echte Begegnung zwischen Menschen. Die therapeutische Beziehung lebt von der Begegnung zweier Menschen, nicht von Fassaden. Dazu gehört für den Therapeuten, bei sich zu sein und das eigene Innere möglichst gut wahrnehmen zu können.
Der wichtigste Wirkfaktor in der Psychotherapie ist die Therapeut-Klient-Beziehung, das haben wir bereits erwähnt. Konkrete Methoden und Techniken treten demgegenüber in den Hintergrund. Entsprechend muss nach unserem Dafürhalten auch die Haltung des Therapeuten sein, vorrangig auf eine gesunde und konstruktive Beziehung zum Klienten zu achten, und nicht darauf, ein bestimmtes Programm abzuarbeiten oder einem vorab festgelegten Fahrplan zu folgen. Dazu gehört manchmal sehr viel Flexibilität: Wenn man sich für die anstehende Stunde mit einem Kind etwas Besonderes überlegt hat, um ihm weiterzuhelfen, und vielleicht sogar stolz auf einen originellen Einfall ist, dann jedoch feststellen muss, auf keinerlei Resonanz zu stoßen, weil das Kind etwas anderes beschäftigt oder es sich heute gar nicht richtig öffnet – dann muss man den Plan vergessen und sich vor allem voll und ganz auf das Kind und seine Realität einstellen. »Erziehung ist Beziehung«, bringt der dänische Familientherapeut Jesper Juul dieses Thema auf eine kurze Formel. Das gilt ebenso für die Lerntherapie: Im Vordergrund steht die Beziehung, die der Lerntherapeut zum Kind und seinen Eltern aufbaut. Die Gestaltung dieser Beziehung und damit auch die Qualität, die diese Beziehung erlangt, liegt in der Verantwortung des Lerntherapeuten. Das ist seine wichtigste Aufgabe. Wie er sie bewältigt, wird stärksten Einfluss auf Erfolg bzw. Misserfolg der therapeutischen Arbeit haben.
Der dritte Aspekt, der uns in diesem Zusammenhang wichtig ist, heißt Ressourcenstärkung statt Defizitorientierung. Sicherlich kommen Eltern mit ihren Kindern in die Lerntherapie, weil sie bestimmte, oft konkret benennbare Defizite wahrnehmen. Ziel soll dann sein, diese Defizite zu beseitigen. In früheren Zeiten war der Ansatz, sich dann eben mit genau diesen Defiziten zu beschäftigen. Wenn heute ein Kind Nachhilfe erhält, obwohl eine Lerntherapie angezeigt wäre, dann geschieht genau diese Fokussierung auf das Defizit – nur, welche Folgen hat das? Das grundlegende Problem liegt darin, in diesem Ansatz ausschließlich die Perspektive der Eltern und der Lehrer einzunehmen (»Das Kind muss richtig lesen können«). Dies ist aber nicht die Perspektive des Kindes. Es steckt bereits so tief in der Problematik von Versagensgefühlen, Angst und Stress, dass kein Raum mehr für einen Wunsch wie »Ich will lesen lernen« da ist. Andernfalls würde es lesen lernen und nicht in die Lerntherapie gebracht werden. Um mit dem Kind arbeiten zu können, um überhaupt eine Aussicht auf langfristigen Erfolg zu haben, muss man als Erstes den Fokus vom Defizit wegnehmen: »So, du kannst nicht lesen. Also, das interessiert mich im Moment nicht so sehr. Was machst du eigentlich gern? Ah, Basteln (oder Fußballspielen oder Musikhören oder Zusammensein mit Freunden oder was auch immer). Okay, dann basteln wir jetzt etwas.« Wenn es um das Defizit geht, wird der Druck auf das Kind erhöht, das fühlt es sehr stark, und das führt unmittelbar zu dem Verhalten, das als unangemessen wahrgenommen wird. Anders gesagt, wir laden das Kind regelrecht dazu ein, dieses Verhalten zu zeigen. Wenn das Kind sich entwickeln und entfalten soll, dann müssen wir mit den Dingen beginnen, die das Kind kann bzw. die es gern macht. Auf diese Weise kann der Therapeut zum Begleiter auf dem Weg werden. Ein wichtiger Aspekt dabei ist, mit dem Kind einen Kontext zu gestalten, in dem es neugierig auf seine Umwelt reagieren darf. Das schafft die Möglichkeit, auch wieder Neugier auf Wörter und Geschichten wachsen zu lassen, was wiederum Voraussetzung ist für die Bereitschaft, lesen und schreiben zu lernen.
Der Begriff »Defizit« bezeichnet im normalen Sprachgebrauch einseitig etwas Fehlendes: eine nicht vorhandene Kompetenz, eine Minderleistung, mangelndes Wissen, ein Unvermögen, etwas Bestimmtes zu tun usw. Abweichend davon möchten wir die gestalterische Funktion von Defiziten ebenso betonen. Indem jemand etwas nicht kann, nicht weiß oder nicht versteht, beeinflusst er seine sozialen Beziehungen oftmals dahin gehend, etwas bestimmtes anderes damit zu erreichen. Was das im Einzelfall genau ist, ist sehr unterschiedlich: Es kann konkrete Hilfe sein (was ich selbst nicht kann, macht jemand anders für mich), es kann Aufmerksamkeit sein (wenn ich die Aufgaben nicht alleine löse, setzt sich meine Mutter dazu und erklärt sie mir) oder auch emotionale