Jenseits von Materie. Prof. Dr. Oliver LazarЧитать онлайн книгу.
verhältnismäßig riesigen Abstand zum Kern besitzen. Um sich das bildhaft vorzustellen, vergleichen Lesch und Gaßner das Größenverhältnis eines gesamten Atoms zu seinem Atomkern mit dem eines großen Fußballstadions (z. B. dem Dortmunder Signal-Iduna-Park) als Atom und einem Reiskorn im Mittelpunkt des Anstoßkreises als dessen Kern.18 Allerdings ist im Signal-Iduna-Park immer unheimlich viel los, tolle Fußballmannschaften kämpfen um den Sieg, und über 80 000 euphorische Fans bejubeln das Spiel, im Vergleich dazu herrscht in der Atomhülle bis auf die negativ geladenen Elektronen gähnende Leere. Wir zoomen weiter hinein und erreichen den Atomkern, der aus den positiv geladenen Protonen und den elektrisch neutralen Neutronen besteht. Diese Kernbausteine bestimmen die Masse des gesamten Atoms, also schauen wir sie uns noch genauer an. Es spielt keine Rolle, ob wir Neutronen oder Protonen betrachten, das Folgende gilt gleichermaßen für beide. Wir werfen einen Blick in ein Proton hinein und erreichen somit einen Bereich, wo wir zumindest nach dem aktuellen Stand in der Forschung die wirklich kleinsten unteilbaren Elementarteilen, die Quarks, finden. In jedem Proton befinden sich drei Quarks (zwei Up-Quarks und ein Down-Quark) und die sie zusammenhaltenden Gluonen (vom englischen glue: kleben abgeleitet), die mit dieser starken Wechselwirkung eine der vier Grundkräfte der Physik erzeugen. Diese Elementarteilchen stehen in einer permanenten Wechselwirkung mit einem überall im Universum gleichermaßen wirkenden Kraftfeld, dem sogenannten Higgsfeld, das nach dem schottischen Physiker Peter Higgs benannt wurde. Unter Einbeziehung dieses im Large Hadron Collider* experimentell nachgewiesenen Higgsfelds stellte sich heraus, dass sämtliche Elementarteilchen eines definitiv massereichen Protons bzw. Neutrons komplett masselos sein müssen. Ja, du hast richtig gelesen! Dort, wo eigentlich die feste Materie sein müsste, gibt es de facto keine Masse. Wie ist das möglich? Wie kann ein Atom eine Masse besitzen, wenn es aus ganz viel Nichts und masselosen Elementarteilchen besteht? Erinnerst du dich an die einsteinsche Formel? Masse ist dasselbe wie Energie, und die Masse der Materie besteht somit nicht aus fester Substanz, sondern aus Bewegungs- und Bindungsenergie der Quarks und Gluonen. Ist es nicht faszinierend, wenn wir uns im Kleinsten betrachten, dass wir zu 100 Prozent aus Energie bestehen? Es ist also kein esoterischer Quatsch, wenn wir sagen, dass wir reine Energie sind. Es ist sogar physikalisch bewiesen. Der Quantenphysiker und frühere Leiter des Max-Planck-Instituts für Physik in München Hans-Peter Dürr kommt sogar zu dem Schluss, dass es gar keine Materie gibt:
»… welche Überraschung, wir müssen feststellen, es gibt die Materie im Grunde nicht mehr. Es gibt letzten Endes nur noch eine Art Schwingung. Es gibt, streng genommen, keine Elektronen, es gibt keinen Atomkern, sie sind eigentlich nur Schwingungsfiguren. Eine Art Schwingungsfigur wie Ihr Handy-Gespräch im elektromagnetischen Feld, nichts Materielles im eigentlichen Sinne. An diesem Punkt haben wir die Materie verloren.«19
3.3 Geist und Materie
Warum habe ich mich überhaupt mit dem Thema Materie beschäftigt? Ich war auf der Suche nach einer Antwort, ob Jomas Seele integraler Bestandteil der Materie ihres Körpers ist und ob mit dem physischen Tod auch die Seele stirbt. Darüber, ob die Materie unseres Körpers tatsächlich an der Entstehung unseres Bewusstseins beteiligt ist, streiten sich die Gläubigen, Philosophen und materialistischen Wissenschaftler seit Jahrzehnten. Ein Erklärungsansatz, der unter anderem von dem amerikanischen Philosophen John Searle vertreten wird, lautet, dass der Geist aus Materie durch komplexer werdende Molekularstrukturen entsteht. Es ist vergleichbar mit zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom, die für sich betrachtet gänzlich andere Eigenschaften besitzen als ihre molekulare Zusammensetzung als Wassermolekül. Die Eigenschaften einzelner Atome spiegeln sich im molekularen Verbund nicht zwangsläufig wider, es entstehen durch Neuorganisation und die Bildung von Verbünden komplett neue stoffliche Ausprägungen. Nach Searle soll auch das Bewusstsein bei solchen emergierenden Prozessen im Gehirn entstanden sein.20
Einige Materialisten sehen sogar evolutionäre Prozesse an der Entstehung von Bewusstsein beteiligt. So beschreibt der britische Psychologe Nicholas Humphrey, dass das Vorhandensein von Bewusstsein evolutionäre Vorteile in Bezug auf Überlebensund Vermehrungschancen hatte und nur deshalb überhaupt erst entstanden sei. Seiner Einschätzung nach erzeugte das Gehirn demnach Gefühle und Wünsche. Dies sei jedoch nicht echt, sondern eine Inszenierung des Gehirns und reine Einbildung.21 Ich teile hierbei die Meinung von Rupert Sheldrake, der dies folgendermaßen kommentiert:
»Nun, wenn wir sagen, Bewusstsein sei Einbildung, ist das keine Erklärung für Bewusstsein, sondern setzt es voraus. Einbildung ist vielmehr eine Funktionsweise des Bewusstseins.« 22
Das Zusammenspiel von Materie und Atomen mit Geist und Bewusstsein wird unter anderem auch vom Panpsychismus* beschrieben. Einer der bekanntesten Vertreter des Panpsychismus ist der amerikanische Philosoph Thomas Nagel, der in seinem 2012 veröffentlichten Buch Mind and Cosmos die These aufstellte, dass alle Elemente der physischen Welt auch mental sind.23 Das bedeutet also, dass allen Atomen und Molekülen zumindest eine niedere Form eines Geists oder Bewusstseins innewohnen soll. Der britische Philosoph Galen Stawson schreibt den Atomen im Einzelnen zwar kein menschliches Bewusstsein zu, aber in seiner Betrachtung kann eine Zunahme der Komplexität eines Systems auch zur Ausbildung eines komplexen Geistes führen.24 Diese Interpretation führt letztendlich zu einem lückenlos beseelten Universum. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Weltseele häufig genannt. Eine erstaunliche Parallele dazu finden wir in der alten indischen Philosophie Vedanta**, die als Basis für den Hinduismus und Buddhismus gilt. In ihr wird die höchste Gottesvorstellung namens Brahman beschrieben, die für das unwandelbare, unsterbliche Absolute und den Urgrund allen Seins steht. Es existiert ohne Anfang und ohne Ende. Brahman steht für das letzte Eine, das selbst keine Ursache hat, aus dem aber alles Geistige und Materielle entstanden ist. 25 Somit begründet Brahman alle belebte und unbelebte Materie.
Ich denke, dass man den Panpsychismus mit seinen beseelten Atomen ganz einfach in einer kritischen Auseinandersetzung widerlegen kann. In Kapitel 3.1.1: Urknall, Sterne und Kernfusion (➛Seite 92) habe ich bereits beschrieben, dass der menschliche Körper einem stetigen Wandel unterliegt. Innerhalb weniger Wochen werden sämtliche Atome und Moleküle unseres Körpers kontinuierlich und komplett ausgetauscht, doch zeigt sich unsere Seele von diesem nahezu vollständigen atomaren Wandel ganz und gar unbeeindruckt. Es kann daher nicht möglich sein, dass unser Geist das Produkt der atomaren und molekularen Substanz unseres physischen Körpers ist.
Der physikalische Ansatz mit der Energie und dem Higgsfeld eröffnet weitaus größere Perspektiven. Das Higgsfeld ist ein Kraftfeld, das keine lokale Quelle besitzt, es ist nicht-lokal, überall im ganzen Universum gleichsam präsent und wirkt auf die Elementarteilchen unserer Materie, die aus Nichts und Energie bestehen. Harald Lesch bezeichnete die Entdeckung des Higgsfeldes als einen »wirklichen Kracher«, denn »das Higgsfeld gehört zu den Anfangsbedingungen des Universums«.26 Ich halte dieses verifizierte Zusammenspiel des Higgsfeldes mit den Quarks für eine glaubhafte Grundlage dafür, dass es durchaus auch noch andere Energiefelder, z. B. auch aus geistigen Ebenen, geben kann, die frei von Zeit und Raum mit der Energie unserer Materie in Wechselwirkung treten können. Der Schweizer Philosoph Armin Risi beschreibt es ähnlich:
»Die theistische Wissenschaft postuliert, dass die Unendlichkeit der Materie in ein absolutes, ewiges Bewusstseinsfeld eingebettet ist und dass dieses Bewusstseinsfeld die Materie beseelt, mit In-Formation erfüllt und dadurch Form annehmen lässt.« 27
Das Higgsfeld wurde bereits experimentell im Teilchenbeschleuniger im CERN nachgewiesen, mit dem Bewusstseinsfeld wird es etwas schwieriger. Dennoch halte ich dieses nicht-lokale und zeitlose Bewusstseinsfeld und einen beseelten materiellen Körper, der wie eine Marionette dem Bewusstsein als Spielfigur dient, für die plausibelste Betrachtungsweise.