SELBST-geführte Psychotherapie. Uta SonnebornЧитать онлайн книгу.
authentisch und absichtslos ist. Er ist nicht fixiert auf eigene Ziele oder Selbstdarstellung, hat eine natürliche Bereitschaft zu geben, ohne sich ausnutzen zu lassen. Er spürt Dankbarkeit und Demut ohne Unterwürfigkeit. Er muss nicht mithilfe von Gesetzen oder Moral dazu gezwungen werden, das Richtige zu tun. Er hat ein natürliches Mitgefühl für alle Kreaturen und die Natur, eine Leidenschaft für das Leben. Er ist motiviert, den Zustand der Menschheit und der Umwelt zu verbessern, weil er das Bewusstsein hat, dass wir alle miteinander verbunden sind. Jeder Mensch kann in sich SELBST sein, und keiner wird es dauerhaft sein. Es geht nicht darum, ein »Heiliger« zu werden, sondern die Freude einer möglichen Selbstführung immer wieder erleben zu dürfen. Das Schöne daran ist: Je mehr die Teile dem Selbst vertrauen und je mehr die Teile von Alt- oder Erblasten entlastet und befreit sind, umso mehr Selbstqualitäten entfalten sie und arbeiten freudig dem Selbst zu – auf natürliche Weise; ein System in einer stimmigen Ökologie. Das Selbst in der IFS hat also diesen im Alltag sichtbaren, im bewussten mentalen und körperlichen Erleben spürbaren und identifizierbaren Aspekt, mit dem es sich – auch therapeutisch – so wunderbar arbeiten und leben lässt. Gleichzeitig ist das Selbst aber auch ein ozeanisches Gefühl von Verbunden-Sein, in der Welt sein, eins zu sein mit der Natur und dem Universum, ein Gefühl von innerer Zufriedenheit, von Glück, von Grenzenlosigkeit, ein Flow. Es kann spürbar sein als pulsierende Wärme, Licht oder Energie durch den Körper oder um ihn herum, von Weite und Raum in Körper und Geist. Auch in unserer Körperhaltung, in unseren Augen, in unserer Gestik, Mimik, Körperspannung, unseren Bewegungen können wir spüren, wie wir SELBST präsent sind. Ein stimmiges Körpergefühl und Herzenswärme ist ein weiterer Hinweis dafür, gerade bei sich SELBST sein. Es ist Liebe, Seele, Natur. Es ist grundlegend da, bei jedem, manchmal mehr oder weniger verborgen, verdeckt, versteckt. Wenn die Therapie die Blätter der Teile, die auf ihm liegen und es verdecken, einzeln identifizieren und um ein bisschen Abstand zum Selbst bitten, wird es sichtbar und erlebbar.
Bei schwer traumatisierten Menschen kann das Selbst auch außerhalb des Körpers zu finden sein. Beschützerteile haben es einst in der traumatischen Situation aus dem Körper herauskatapultiert, um das System vor Schmerz, Gewalt, Erniedrigung zu schützen. Das Selbst muss jedoch verleiblicht sein, um die Selbstführung übernehmen zu können. In diesem Fall muss das Selbst erst wieder den Weg zurück in den Körper finden, bevor die Teile es als ihre Führung anerkennen können. Eine vollständige Antwort, was das Selbst sein kann, wage ich nicht zu geben, das wäre sehr vermessen. Wenn wir in diesem Kontext von dem Selbst sprechen, dann meinen wir eher Selbst-Qualitäten, die wir in unserm Körper, im Fühlen, im Denken und im Verhalten bewusst erleben können. Das Selbst scheint jedoch die Geister sehr zu beschäftigen. In Psychologie, Philosophie und Anthropologie gibt es sehr viele Definitionen von Selbstbegriffen. (Siehe dazu auch das Kapitel »Das Konzept des Selbst – eine Annäherung« von Ruthild Haage-Rapp.)
Ein hundertprozentiges Selbst wird ein normal sterblicher Mensch auf Erden niemals erreichen. SELBST können wir nicht machen. Anstrebenswert ist es jedoch, die SELBST-Qualitäten immer wieder in sich zu erkennen, sie aufzuspüren, sie zu fühlen, zu erleben und ihnen einen möglichst großen Platz im Leben einzuräumen, auf dass sie SEIN können. Das gelingt, wenn wir Zustände unterscheiden können, in denen wir Teile-geleitet unterwegs sind, um dann möglichst bald die Teile zu bitten, wieder uns SELBST die Leitung unserer Geschicke in die Hände zu geben.
Übung
Vielleicht haben Sie ja Lust, sich einen Moment Zeit zu nehmen für eine kleine Übung? Dann bitte ich Sie, einmal kurz innezuhalten.
Schenken Sie Ihrem Atem für vier bis fünf Atemzüge Ihre Aufmerksamkeit. Einfach nur wahrnehmen, wie er selbstverständlich kommt und wieder geht, von woher er sich schöpft, und wo er sich überall ausbreitet in Ihrem Körper. Nur wahrnehmen, nichts bewerten.
Spüren Sie für jeweils drei Atemzüge Ihre Füße im Kontakt mit dem Boden, Ihren Körper im Kontakt mit der Fläche unter sich, Ihre Arme an Ihrem Körper und die Hände im Kontakt mit was auch immer (mit sich, den Beinen, der Stuhllehne, dem Boden) – nehmen Sie wahr, dass der Boden Sie selbstverständlich trägt?
Und dann lade ich Sie ein, sich zum Beispiel einfach mal vorzustellen, wie es ist, sich mit irgendetwas in der Natur, oder mit einem Wesen, bei dem Ihr Herz sich öffnet, verbunden zu fühlen, ohne etwas zu beabsichtigen.
Wenn Sie sich im Kontakt fühlen – mit dem Atem, mit der Schwerkraft, mit der Natur, registrieren Sie mal, wie schauen Ihre Augen in die Welt? Welchen Gesichtsausdruck können Sie an sich wahrnehmen, wie fühlt sich Ihr Mund an? Welche Körperhaltung nehmen Sie unwillkürlich ein und wie fühlt sich dabei Ihr ganzer Körper an? Scannen Sie ruhig mal durch. Was erleben Sie in diesem Augenblick der Selbstverständlichkeit, der Verbundenheit an Gefühlen, an Gedanken, an Körpererleben?
Bitte verweilen Sie ein paar Atemzüge.
Und wenn Sie sich aus dieser Haltung heraus einer Teilpersönlichkeit von Ihnen zuwenden, in dem tiefen Wissen, sie ist ein Teil von Ihnen, sie gehört zu Ihnen, sie ist mit Ihnen verbunden – was erleben Sie dann?
Im Alltag und in der Therapie finde ich es ausgesprochen praktisch und hilfreich, Selbstqualitäten, kurz eben das Selbst genannt, immer wieder von den Teilen unterscheiden zu können, und mich täglich darin weiter zu üben, als Mensch und als Therapeutin. Und auch die Klienten darin zu unterstützen, mehr und mehr aus sich SELBST heraus achtsam mit ihren Teilen in Kontakt zu treten. In Selbstqualitäten unterwegs zu sein ist leicht und nicht anstrengend, für sich selbst und für die anderen Menschen in seiner Umgebung. Achtsamkeit und Meditation können förderlich wirken, mehr SELBST und mehr von seinen Teilen zu erleben und zu erfahren.
Die Teile
Die menschliche Persönlichkeit besteht natürlicherweise aus einer unbegrenzten Anzahl von Teilpersönlichkeiten. Die Teilpersönlichkeiten, kurz Teile genannt, stellt man sich am besten als reale Persönlichkeiten vor, mit Alter, Charakter, Eigenheit, Besonderheit, Eigenschaften. Sie handeln unter- und miteinander, wie reale Menschen es auch tun, und sind in bestimmten Strukturen und Systemen miteinander verwoben. Auf unterschiedliche Art und Weise machen sie sich intern bemerkbar: als Gedanken und Gefühle, als Körperempfindungen und Körperwahrnehmungen, als körperliche und seelische Symptome, als Muster, als innere Bilder, Fantasien, interne Stimmen, Töne etc. Sie wollen in einem nicht extremen Zustand prinzipiell etwas Gutes für ihren Menschen und wenden alle möglichen Strategien an, um Einfluss im System zu bekommen. Wenn sie nicht mit uns SELBST verbunden sind und sich störend oder als Symptome in unserem gegenwärtigen Leben auswirken, sind sie meist in der Vergangenheit stecken geblieben. Sie spielen noch ihre Rollen in unserem alten Film. Sie entwickeln ein komplexes Interaktionssystem untereinander. Polarisierungen entstehen, wenn bestimmte Teile zu mehr Einfluss gelangen wollen und wenn das Selbst mit einem der Teile identifiziert ist. Teile werden durch Erfahrung beeinflusst, aber nicht durch sie geschaffen. Sie existieren schon immer, entweder als Möglichkeit oder bereits ausgeformt. Teile, die extreme Rollen übernommen haben, tragen »Lasten«, wie Überzeugungen, Glaubenssätze, Energien, Gefühle, Fantasien, Familiengeheimisse, die sie in den extremen Situationen übernommen haben, die der ursprünglichen Aufgabe des Teils jedoch nicht entsprechen und nicht zu der Natur des Teiles gehören. Die Teile können darin unterstützt werden, sich zu entlasten und zu ihren ursprünglichen Aufgaben zurückzukehren. Sie finden dann ein neues Gleichgewicht. Haben sie die extreme Rolle oder die Bürde abgelegt, kann ihr eigentlicher Charakter zum Vorschein kommen und der Teil dem Menschen verbunden sein. Aus einem quälend zwanghaften Teil wird so zum Beispiel ein sinnvoll ordnender; er ist dann von der Last seines alten Glaubens befreit, sein Mensch würde ohne ihn im Chaos versinken, wenn er nicht so rigide wäre. Teile, die das Vertrauen in das Selbst verloren haben, »verschmelzen« mit dem Selbst oder überwältigen es. Sie glauben dann, sie seien dieser Mensch. Sie tragen die Überzeugung, dass nur sie das System retten und führen könnten. Ihre Bemühungen und ihre Arbeit müssen geschätzt und gewürdigt werden. Und sie müssen das Vertrauen in das Selbst erst wieder lernen. Kann das Selbst wieder aktiv sein, so werden die Teile dem Selbst gerne zuarbeiten. Sie werden das Selbst zwar beeinflussen wollen, letztlich jedoch seine Führung anerkennen. In diesem entlasteten Stadium