SELBST-geführte Psychotherapie. Uta SonnebornЧитать онлайн книгу.
ich mich gerade befinde – so wie ich bin oder so, wie ich oder andere es von mir verlangen. Achtsamkeit schafft eine Präsenz im Sein, die als Energie wahrnehmbar ist. Mit der aufmerksamen Wahrnehmung nehme ich wahr, was im Moment ist. Ich bin da, wo ich bin. Ich höre, was ich höre, sehe, was ich sehe, fühle, was ich fühle, denke, was ich denke. Wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich laufe, dann laufe ich … und nichts mehr. Achtsamkeit kann dem Menschen den Unterschied anzeigen zwischen Da-Sein (so wie er ist) und seinem So-Sein (so wie er in seiner Rolle sein sollte).
Achtsamkeit ist Praxis vieler spiritueller Richtungen und besonders im Buddhismus vertreten. Vor einigen Jahrzehnten hat unter anderem der Mönch und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh die Achtsamkeitspraxis aus dem Buddhismus den Menschen im Westen nähergebracht. Dabei ist Achtsamkeit an keine Religion gebunden und verfolgt keine konkreten Ziele. Die Achtsamkeitspraxis, wie sie von Thich Nhat Hanh verkörpert wird, hält Übungen für die Ehrfurcht vor dem Leben, die wahre Liebe und das wahre Glück, für liebevolles Sprechen und tiefes Zuhören, für Nahrung und Heilung bereit. Für erstrebenswert hält sie die Ideale von miteinander leben können in Verständnis und Mitgefühl, Frieden, Freude und Wohlbefinden. Transformation und Heilung werden mit dieser Haltung unterstützt. Alle Übungen und Meditationen sind mit achtsamem Atmen verbunden. Jon Kabat-Zinn ist mit der Entwicklung der schon erwähnten Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) eine Methode zu verdanken, die weltweit Menschen zu mehr Selbstwahrnehmung, Entspannung und Stressverminderung verholfen hat und ihnen die Fähigkeit zur Regulierung der eigenen Emotionen und zur Schulung ihrer Wahrnehmung an die Hand gegeben hat. Sie ist in acht Wochen zu erlernen und setzt regelmäßiges Üben voraus. Auch hier macht Übung den Meister und belohnt mit einem Seins-Gefühl von Klarheit und Intensität u.v.a.m.
Achtsamkeitstraining verhilft dem Menschen zu mehr Freiheit, den Raum zwischen Reiz und Reaktion selbst zu gestalten und nicht mehr aus dem »Autopiloten«, also unbewusst zu reagieren. Es stärkt damit die Fähigkeit zu Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, Selbstmitgefühl, Selbstbestimmung und Selbstregulation. Regelmäßige Achtsamkeitspraxis öffnet uns für die ganze Bandbreite an Gefühlen, verändert die Schmerzwahrnehmung, stärkt das Konzentrationsvermögen, macht nachsichtiger und gnädiger mit sich selbst und stärkt die Hilfsbereitschaft für andere. Bei vielen seelischen Erkrankungen stärkt sie das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Sie fördert nachgewiesenermaßen die Neuroplastizität des Gehirns und schafft damit Möglichkeiten, neue neuronale Netzwerke zu aktivieren und alte, dysfunktionale, den Menschen an seinem eigenen Leben hindernde Muster nachhaltig zu verändern. Achtsamkeit ist zudem die Voraussetzung für Empathie für sich selbst und andere.
Es gibt also eine Menge von Gründen, Achtsamkeit zu erlernen und sich darin zu üben – und es gibt viele Möglichkeiten, sie zu praktizieren. Da sind die formellen Achtsamkeitsübungen in der Bewegung wie Tai-Chi, Qigong, Yoga, die Atemmeditationen, geleitete Meditationen und viele unterschiedliche Meditationsformen. Die Alltagsmeditationen, bei denen ich das, was ich gerade sowieso tue, mit Achtsamkeit tue und im Moment bin, lassen sich ohne großen äußeren Aufwand praktizieren und stellen sich bei ausreichender Übung immer öfter von alleine ein. Wenn ich mir die Hände wasche, auf die Toilette gehe, zur Arbeit gehe/fahre, esse, mich bewege, dann kann ich das genauso gut achtsam tun. Dann habe ich am Morgen schon eine Gehmeditation oder eine Bewegungsmeditation erlebt, mit meinen Sinnen die Umgebung wahrgenommen, eine achtsame Essmeditation erfahren. Ich bin da, wo ich bin – mit Körper, Seele und Geist. Körpermeditationen sind ebenfalls leicht in den Alltag zu integrieren. Und wenn ich mir am Stück mehr Zeit nehmen möchte, dann bietet sich ein Bodyscan, eine geleitete Meditation unterschiedlicher Länge oder eine Fantasiereise an. Und an zahlreichen Meditationsverfahren mangelt es ja auch nicht. Jede*r kann sich die passende Möglichkeit auswählen. Es sollte sich stimmig anfühlen.
Neurophysiologische Untersuchungen haben ergeben, dass bei Menschen, die täglich eine Viertelstunde für zwei Monate eine meditative Achtsamkeitspraxis ausüben, eine sichtbare Beruhigung der Stresszentren im Gehirn in der Positronen-Emissions-Tomographie nachzuweisen war. Es findet eine Stärkung des präfrontalen Kortex statt. Dieser hilft, bewusst zu denken, fühlen und zu handeln. Gleichzeitig wird die Amygdala, der Rauchmelder der Gefühle und die neuronale Angstzentrale, gedämpft. Der Cortisolspiegel, ein Indikator für Stress, sinkt. Durch diese Nachweise öffneten sich schließlich die Türen für die Anwendungen von Achtsamkeitspraxis in der Medizin und der Psychotherapie. Bei neueren Psychotherapieverfahren wie der Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Marsha Linehan, der Acceptance- and Commitment-Therapy (ACT), der Mindfulness Based Cognitive Therapy (MBCT) sowie bei Selbstmitgefühl-basierten Therapien gehören Achtsamkeitsverfahren zur Grundausstattung.
Viele humanistische Psychotherapieverfahren wie die integrative Gestalttherapie, die Hakomi-Therapie, das Focusing, die Al Pesso-Therapie und die Systemische Therapie mit der Inneren Familie praktizieren schon seit Jahrzehnten die Prinzipien der Achtsamkeit als unverzichtbare Grundlage ihrer Therapien. Im gegenwärtigen Moment zu sein und mit nichtwertender Aufmerksamkeit den Fokus in absichtlicher Absichtslosigkeit auf Atem, Sinneswahrnehmungen, Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken, Wünsche, Bedürfnisse der Innenwelt etc. zu lenken und in eine tiefe Wahrnehmung einzusteigen, ist Ausgangspunkt dieser Therapien.
Mit der Praxis des achtsamen Wahrnehmens entsteht ein kleiner Abstand zum Innenleben und damit eine Instanz der Beobachtung.
Ich kann meine Sinnesempfindungen wahrnehmen, also bin ich mehr als meine Sinneswahrnehmungen. Ich kann meine Körperempfindungen wahrnehmen, also bin ich mehr als meine Körperempfindungen. Ich kann meine Gedanken wahrnehmen, also bin ich mehr als meine Gedanken. Ich kann meine Gefühle wahrnehmen, also bin ich mehr als meine Gefühle. Ich kann meine Wünsche und Bedürfnisse wahrnehmen, also bin ich mehr als meine Wünsche und Bedürfnisse. Ich kann meine Innenwelt wahrnehmen, also bin ich mehr als meine Innenwelt.
Diese beobachtenden Instanzen sind nicht wertend, eher neutral, registrierend, akzeptierend, auch wohlwollend, gütig, mitfühlend und gelassen. Sie tragen in den unterschiedlichen Psychotherapien verschiedene Namen wie der »innere Beobachter«, »der innere Zeuge«, »der Generaldirektor«, »der Dirigent«, der »Parlamentspräsident«, das »Oberhaupt« u. a.m.
Der SELBST-Begriff in der IIFS geht über diese ähnlichen Eigenschaften der beobachtenden Instanz noch hinaus; ihm wohnt die Qualität des Da-Seins inne. Außerdem ist dieses Zentrum SELBST als unsichtbarer, jedoch psychisch und physisch erlebbarer Partner im inneren Austausch und Dialog zu erfahren. Das macht seine Besonderheit und seine einzigartige Wirkung aus. Dazu mehr in Teil 2.
Die innere Achtsamkeit ist nach innen gerichtete, nicht-wertende Aufmerksamkeit und eine Grundlage für Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion und Selbstfürsorge. Tägliches Innehalten und kurze Übungen sind hilfreich, um das innere Erleben differenziert zu erfahren. Es verschafft gleichermaßen einen stärkeren Kontakt zu sich selbst, wie es auch durch das Einschalten des inneren Beobachters eine Möglichkeit bietet, sich mit einer gewissen Distanz differenzierter zu erleben, ja überhaupt den Kontakt zu dem innewohnenden »Du« (das, was ich wahrnehme als Gegenüber) zu ermöglichen. Durch das Praktizieren von Achtsamkeit erweitert sich das innere Spektrum und die Bewusstheit. Eine Folge davon kann mehr Entspannung, Wohlbefinden, Bewusstheit für innere Vielfalt und Reichtum, Zufriedenheit und Gelassenheit sein. Mit dem Versuch, das Wahrgenommene möglichst ohne Wertung zu betrachten, nämlich als das, was es ist (und falls man doch wertet, registriert der innere Beobachter dies als solches), erweitern sich nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Menschen Einfühlungsvermögen, Verständnis, Horizont und Toleranz. Und bei aller Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit sollten wir auch die Grenzen dessen, was dem Bewusstsein überhaupt zugänglich sein kann, im Blick behalten.
Wahrnehmung
Alles, was wir als wirklich zu erkennen glauben, entsteht in unserem Gehirn. Dazu gehört nicht nur das Kopfgehirn, sondern auch das Bauchgehirn. In beiden Hirnen fließen unzählige Informationen geistiger, seelischer, materieller und intellektueller Art zusammen, visuelle, taktile, auditive und kinästhetische. Sie weben ein Netz mit oft unvorhersehbaren Verknüpfungen und sind individuell sehr verschieden. Unser Bewusstsein kann Teile dieses Netzes wahrnehmen. Und alles, was der Mensch wahrnimmt und welchen Sinn er dem Wahrgenommen gibt,