Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner. Морис ЛебланЧитать онлайн книгу.
»Spotten Sie nicht«, sagte sie ärgerlich.
Plötzlich fuhr ich zusammen; auf ihre Frage antwortete ich: »Sehen Sie dort den kleinen alten Mann am Ende der Gangway stehen?«
»Mit einem Regenschirm und einem olivgrünen Gehrock?«
»Das ist Ganimard.«
»Ganimard?«
»Ja, der berühmte Kriminalbeamte, der geschworen hat, dass Arsène Lupin durch ihn verhaftet wird. Oh, jetzt verstehe ich, warum man von dieser Seite des Ozeans keine Auskünfte bekommen hat. Ganimard war dort. Er mag es nicht, wenn sich jemand um seine Angelegenheiten kümmert.«
»Also ist es sicher, dass Arsène Lupin gefasst wird?«
»Wer weiß? Es scheint, dass Ganimard ihn niemals anders als verstellt und verkleidet gesehen hat. Falls er nicht seinen Pseudonamen kennt …«
»Oh«, sagte sie mit jener ein wenig grausamen Neugier der Frau, »wenn ich doch bei der Verhaftung dabei sein könnte.«
»Fassen wir uns in Geduld. Sicher hat Arsène Lupin die Anwesenheit seines Feindes schon bemerkt. Er wird es wohl vorziehen, unter den Letzten an Land zu gehen, wenn die Augen des Alten müde sind.«
Die Passagiere begannen, das Schiff zu verlassen. Auf seinen Regenschirm gestützt, mit gleichgültigem Gesicht, schien Ganimard nicht auf die Menge zu achten, die sich zwischen den beiden Geländern drängte. Ich bemerkte, dass ihm ein Offizier des Schiffes, der hinter ihm stand, von Zeit zu Zeit Auskünfte gab.
Der Marquis de Raverdan, der Major Rawson, der Italiener Rivolto zogen vorbei und andere, viele andere … Und ich bemerkte Rozaine, der sich näherte.
Armer Rozaine! Er schien sich von seinen Missgeschicken noch nicht erholt zu haben!
»Er ist es vielleicht trotzdem«, sagte Miss Nelly zu mir. »Was glauben Sie?«
»Ich finde, dass es sehr interessant wäre, Ganimard und Rozaine auf derselben Fotografie zu haben. Nehmen Sie doch meinen Apparat, ich bin so bepackt.«
Ich gab ihr die Kodak, aber es war schon zu spät. Rozaine kam näher. Der Offizier beugte sich zu Ganimards Ohr, dieser zuckte leicht mit den Schultern, und Rozaine ging vorbei.
Aber mein Gott, wer war jetzt Arsène Lupin?
»Ja«, sagte sie laut, »wer ist es?«
Nur etwa zwanzig Personen waren noch an Deck. Sie starrte der Reihe nach auf sie mit der irren Angst, dass nicht ausgerechnet er, der Gesuchte, unter diesen letzten zwanzig Personen wäre. Ich sagte zu ihr:
»Wir können nicht länger warten.«
Sie schritt voran. Ich folgte ihr. Aber wir hatten noch keine zehn Schritte getan, als Ganimard uns den Weg versperrte.
»Was ist los?« rief ich.
»Einen Augenblick, mein Herr, wer drängt Sie zur Eile?«
»Ich begleite Mademoiselle.«
»Einen Augenblick!« wiederholte er energisch.
Er sah mich scharf an und sagte, den Blick auf mein Gesicht geheftet:
»Arsène Lupin, nicht wahr?«
Ich begann zu lachen.
»Nein, ganz einfach Bernard d’Andrézy.«
»Bernard d’Andrézy ist vor drei Jahren in Mazedonien gestorben.«
»Wenn Bernard d’Andrézy tot wäre, wäre ich nicht mehr auf dieser Welt. Und das ist nicht der Fall. Hier sind meine Papiere.«
»Sie gehörten ihm. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu erklären, woher Sie sie haben.«
»Sie sind ja verrückt. Arsène Lupin hat sich unter dem Namen R eingeschifft.«
»Ja, auch so eine List von Ihnen, eine falsche Fährte, auf die Sie die drüben geführt haben. Oh, Sie sind hübsch stark, mein Lieber, aber dieses Mal hat sich das Blatt gewendet. Also, Lupin, sei ein guter Verlierer.«
Ich zögerte eine Sekunde. Mit einem kurzen Schlag traf er mich auf den rechten Unterarm. Ich stieß einen Schmerzensschrei aus. Er hatte auf die noch schlecht verheilte Verletzung geschlagen, die das Telegramm angekündigt hatte.
Ich musste aufgeben. Ich drehte mich zu Miss Nelly. Fahl und wankend verfolgte sie das Gespräch.
Unsere Blicke trafen sich, dann senkten sich ihre Augen auf die Kodak, die ich ihr gegeben hatte. Sie machte eine plötzliche Bewegung, und ich hatte den Eindruck, ich hatte sogar die Gewissheit, dass sie plötzlich verstand. Ja, dort zwischen den engen Wänden aus schwarzem Chagrinleder, in der Vertiefung des kleinen Apparates, den ich ihr vorsichtshalber in die Hände gespielt hatte, bevor Ganimard mich verhaftete, dort befanden sich die zwanzigtausend Francs von Rozaine, die Perlen und Diamanten der Lady Jerland.
Oh, ich beschwöre es, in diesem feierlichen Augenblick, während Ganimard und zwei seiner Helfer mich umringten, war mir alles gleichgültig, meine Verhaftung, die Feindschaft der Leute, alles, außer dem einen: die Entscheidung, die Miss Nelly bezüglich dessen, was ich ihr anvertraut hatte, treffen würde.
Ich fürchtete mich nicht vor diesem materiellen und entscheidenden Beweis gegen mich, aber ich hatte Angst davor, dass sich Miss Nelly entschließen würde, diesen Beweis zu liefern.
Würde sie mich verraten? Ich durch sie verloren sein? Würde sie als Feindin handeln, die nicht verzeiht, oder als Frau, die sich erinnert und deren Verachtung durch ein wenig Nachsicht, ein wenig unfreiwillige Sympathie gemildert wird?
Sie ging an mir vorbei. Ich grüßte sie tief, wortlos. Inmitten der anderen Reisenden ging sie zur Gangway, meine Kodak in der Hand.
Ohne Zweifel, dachte ich, traut sie sich nicht, in der Öffentlichkeit zu handeln. In einer Stunde, in einem Augenblick wird sie den Beweis vorlegen.
Aber als sie auf der Mitte der Gangway angekommen war, ließ sie den Apparat durch eine scheinbar ungeschickte Bewegung zwischen die Kaimauer und die Bordwand ins Wasser fallen. Dann sah ich, wie sie davonging.
Ihre schöne Silhouette verlor sich in der Menge, erschien von Neuem und verschwand. Es war zu Ende, für immer zu Ende.
Einen Augenblick blieb ich unbeweglich, zugleich traurig und gepackt von einer sanften Rührung, dann seufzte ich zum höchsten Erstaunen Ganimards:
»Trotz allem schade, dass man kein ehrlicher Mensch ist …«
So erzählte mir an einem Winterabend Arsène Lupin die Geschichte seiner Verhaftung. Der Zufall von Zwischenfällen, die ich in einigen Tagen aufschreiben werde, hatte zwischen uns Bande – soll ich sagen der Freundschaft geknüpft. Ja, ich wage zu glauben, dass Arsène Lupin mich mit ein wenig Freundschaft auszeichnete, und aus Freundschaft kommt er manchmal unvorhergesehen zu mir und bringt in die Stille meines Arbeitszimmers seine jugendliche Ausgelassenheit, die Ausstrahlung eines abenteuerlichen Lebens, seine heitere Menschenlaune, für die das Schicksal nur Gunstbezeigungen und Lächeln hat.
Sein Porträt? Wie könnte ich es wiedergeben? Zwanzigmal habe ich Arsène Lupin gesehen, und zwanzigmal ist mir ein anderes Wesen erschienen … oder eher dasselbe Wesen, von dem zwanzig Spiegel mir ebenso viele verschiedene Bilder wiedergaben, jedes hatte seine besonderen Augen, seine spezielle Gesichtsform, seine eigenen Gesten, seine Gestalt und seinen Charakter.
»Ich selbst«, sagte er zu mir, »weiß nicht mehr genau, wer ich bin. Nicht einmal in einem Spiegel erkenne ich mich.«
Sicher war es sein paradoxer Einfallsreichtum, aber tatsächlich war er für die, die ihm begegnet sind und seine unerschöpflichen Hilfsmittel nicht kannten, seine Ausdauer, seine Kunst des Schminkens, seine wunderbare Fähigkeit, sogar die Proportionen seines Gesichts zu verändern und dessen Züge zu verstellen, jedes Mal ein völlig anderer Mensch.
»Warum«, fügte er hinzu, »soll ich eine bestimmte Erscheinung haben? Warum soll ich nicht diese Gefahr einer immer identischen