Traumfänger. Jason BrüggerЧитать онлайн книгу.
meinem großen Sieg bei «Die grössten Schweizer Talente». Sie streckte mir die Hand hin und ich spürte dieselbe Antipathie wie Jahre zuvor: Sie mag mich nicht. «Ich weiß schon, was du machst», sagte sie kühl, «ich habe dich im Fernsehen gesehen.» Da kam keine Gratulation, keine Anerkennung, kein Lob oder etwas im Sinne von: «Schön, dass du deinen Weg gemacht hast.» Ich weiß nicht, warum ich das von ihr erwartet hätte. Vielleicht, weil sie meine Primarschulzeit so ruiniert hatte. Aber ich war in dem Moment stolz und ich fühlte eine Genugtuung, wie ich sie nie zuvor verspürt habe.
Coming-out mit 16
Das Gymnasium besuchte ich dann in Basel, konkret war es das Sportgymnasium «Bäumlihof». Wie ich diese Zeit genoss! Sie gehörte zu einer der besten meines Lebens überhaupt. Ich wurde akzeptiert, wie ich war, und spürte, dass ich voll integriert war und dazugehörte. Ich war Mitglied einer coolen Klasse, war schweizweit der Erste, der als Zirkusartist zur Sportklasse zugelassen worden war, und realisierte, wie stark ein angenehmes, positives Klassenklima auf den Jugendlichen einwirken kann. Ich, der Jahre zuvor anderes erleben musste, war dafür umso dankbarer. Wie gut hätte mir dies damals als scheuer, kleiner Junge getan.
Wir Gymnasiastinnen und Gymnasiasten waren uns alle auf eine Art ähnlich. Wir pflegten eine sportliche Leidenschaft, trainierten viel, wenn auch an unterschiedlichen Orten und zu anderen Zeiten, aber wir alle verfolgten offensichtlich einen persönlichen Traum: Wir trainierten für unsere Lieblingssportart und wollten uns immer verbessern. Meine Leidenschaft für den Zirkus wuchs von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als auf den ganz großen Bühnen dieser Welt stehen zu dürfen.
Und dies in einer Zeit, in der wir alle ziemlich am Pubertieren waren, die ersten Partys besuchten, zum ersten Mal die Schule schwänzten. Zusammen rebellierten wir. Eine besondere Nummer unter den Lehrpersonen war meine aus Polen stammende Mathematiklehrerin Frau Michalsky, die nie meinen Namen richtig aussprechen konnte. So war ich in jeder Lektion ein anderer: James, Jackson, Jenson, Janson, einfach nur nie Jason. Ich selbst freue mich darüber, dass meine Eltern sich bei mir für diesen englischen Namen entschieden hatten. Ich habe seither noch keinen Namensgefährten in der Schweiz getroffen.
Nicht die Mathematiklehrerin, sondern ich selber war schuld, dass ich in Mathematik extrem schlecht war. Diese ganzen Zahlen und Formeln brachte ich einfach nicht auf die Reihe und das alles interessierte mich auch nicht. So hatte ich in Mathe bei der Matura eine glatte Zwei, die ich aber dank der anderen Fächer kompensieren konnte. Frau Michalsky tadelte mich nicht ein einziges Mal deswegen, sondern zeigte großartiges Verständnis für meine miserablen Noten und entschuldigte sie mit den Worten: «Er ist anders. Er ist ein Künstler. Da braucht er keine Mathematik.» Wahrscheinlich zeigte sie so viel Einfühlungsvermögen, weil sie selbst eine Affinität zum Theater besaß. Zum ersten Mal war ich stolz, anders zu sein.
Trio infernale
Ich hatte viele tolle Freunde und zwei beste Freundinnen: Laura und Maria. Unglaublicherweise waren Laura und ich uns schon einmal begegnet: in der Primar bei der besagten Lehrerin. Sie hatte da zwei Wochen zugebracht, wurde als schwer erziehbar betitelt und musste daraufhin die Klasse wechseln. Vielleicht müssen gewisse Begegnungen aber doch zustande kommen? Jedenfalls bildeten wir, Maria, Laura und ich, zusammen das «Trio infernale», stellten so viel Mögliches und Unmögliches auf die Beine, hatten unglaublich viel Unsinn im Kopf und waren nicht einfach zu handhaben für unsere Lehrpersonen. Zusammen waren wir stark – wir waren ein Team. Mit diesen zwei Mädchen konnte ich so glücklich sein wie schon lange nicht mehr. Sollte sich nicht jeder Mensch zu einem Team zugehörig fühlen dürfen? Ich mochte diese Unbeschwertheit. Und im Nachhinein denke ich, als Teenager hat man das Recht, auf unsere Art rebellisch zu sein. Ich, der kleine Rebell, war auf dem Weg, erwachsen zu werden. Wir waren ja nicht böse, wir waren einfach in der Veränderung.
Wir dachten, nichts könne uns aufhalten, nichts könne uns trennen. Doch der Moment kam, an dem wir alle unsere eigenen Wege gehen mussten. Maria ging zurück nach Bern, Laura begann zu arbeiten, und ich hatte ja auch hoffnungsvolle Pläne. Das Trio infernale wurde getrennt. Wenn ich an den letzten gemeinsamen Abend denke, kommen mir wieder die Tränen. Die Freundschaft zu Maria und Laura wird eine lange Freundschaft bleiben – durch weitere Höhen und Tiefen hindurch.
Ich stehe zu mir
Es war die Zeit, in der ich mich outete, homosexuell zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich selbst betrogen, nach außen eine Rolle gespielt, durfte nie ich selber sein. Nun wollte ich nicht mehr. Die Welt sollte es erfahren. Das war keine einfache Sache für mich. Obwohl es eigentlich offensichtlich war, dass ich immer anders gefühlt hatte als andere Jungs. Wahrscheinlich hatten sich dies viele Menschen in meinem Umfeld auch schon gedacht, mich aber nie darauf angesprochen. Ich fühlte, dass es nun an der Zeit war, zu mir selbst und zu meinen Gefühlen zu stehen. Warum sollte ich sie auch verstecken? Homosexualität ist keine Krankheit und nichts, wofür man sich schämen muss.
Ich überlegte mir lange, wie ich mich outen sollte und erzählte es erst zwei guten Freunden von mir. Sie waren nicht sehr überrascht. Bei ihnen fühlte ich mich wohl und getragen. Da wusste man einiges voneinander. Und bei ihnen fiel es mir ja noch einfach. Doch wie sollte ich mich der Schulklasse erklären? Würde ich dadurch wieder zu einem Außenseiter und gemobbt werden? Für viele war es keine Überraschung und es schien für keinen Einzigen ein Problem zu sein. Innerlich war ich sehr froh darüber. Schon bald lernte ich meinen ersten Freund kennen. Die Zeit sollte kommen, dass ich meine Familie über meine Homosexualität aufklären sollte. Aber wie? Und wann?
Vor dem Einschlafen malte ich mir die Reaktionen meiner Eltern und Geschwister aus. Wie würden sie reagieren? Eigentlich schätzte ich sie recht offen ein und dachte mir, dass sie das einfach so akzeptieren würden – ja, etwas naiv von mir. Und ich hatte mich damit auch ziemlich getäuscht, wie ich dann realisierte.
Ich passte also den richtigen Moment ab, der an einem Wochenende nach den Sommerferien kam. Zusammen mit meiner Mutter saß ich auf dem Sofa und wir schauten einen schrecklichen Horrorfilm – ob dies der richtige Zeitpunkt war? Jedenfalls fiel ihr auf, dass ich ständig an meinem Handy war und Nachrichten verschickte.
«Hast du eine Freundin oder einen Freund?», wollte sie da plötzlich wissen.
«Ja, wäre es denn schlimm für dich, wenn es tatsächlich ein Freund wäre?», entgegnete ich.
«Nein. Ist es denn so?»
«Ja, ich bin schwul.»
Nach dieser Neuigkeit brauchte meine Mutter erst einmal eine Zigarette. Wir schauten den Film an jenem Abend nicht mehr zu Ende, denn sie verließ kurz darauf das Haus und fuhr zu meinem Vater, der hauptberuflich als Feuerwehrmann arbeitete und deshalb oft auch abends und am Wochenende Bereitschaftsdienst hatte. Meine Eltern hofften inständig, dass ich doch noch einer jungen, hübschen Frau begegnen würde, die meine Gefühle von der Homo- in die Heterosexualität hätte polen können. Ja, sie hatten schon Mühe mit der Tatsache, dass ihr sechzehnjähriger Sohn einen anderen Jungen liebte. Und sie fragten sich auch: «Was kommt jetzt wieder auf uns zu?», und konfrontierten mich mit ihrer Angst, dass ich nun wieder zu einem Außenseiter werden könnte. Denn sie wünschten sich eigentlich nichts sehnlicher, als mich glücklich zu sehen. Dies zu akzeptieren, brauchte Zeit. In dieser Zeit traf ich meinen Freund heimlich, bis zum elterlichen Verbot, ihn wiederzusehen. Das war schwer für mich. Wie hätte ich mir gewünscht, dass durch mein Outing mein Leben einfacher werden würde und meine Eltern mir in diesem Moment das nötige Verständnis und Mitgefühl geschenkt hätten.
Trotzdem weihte ich Schritt für Schritt alle ein. Keiner meiner gleichaltrigen Freunde hatte ein Problem damit. Warum muss man sich so viele Gedanken machen, wenn man realisiert, anders zu sein als die große Masse? Meine Schwester Stephanie erfuhr es durch meine Eltern, und meinen jüngeren Brüdern schrieb ich einige Monate später einen Brief aus Kanada.
Dass sich meine Eltern kurze Zeit darauf trennten, machte mir schwer zu schaffen, weil ich fürchtete, der Auslöser gewesen zu sein. Ich fühlte mich irgendwie schuldig, als mein Vater in eine andere Wohnung zog. Es war ein schweres halbes Jahr, in dem viele Probleme