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Im Stillen klagte ich die Welt an. Dora StettlerЧитать онлайн книгу.

Im Stillen klagte ich die Welt an - Dora Stettler


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      In der Küche wartete Mama schon ungeduldig auf die Karotten. Wir stellten die Ware wortlos auf den Tisch und entzogen uns Mamas möglichen Fragen!

      Papa hatte am Stadtrand auf einem Familiengarten-Areal ein Stück Pflanzland gepachtet. Das Gartenhäuschen mit den Kaninchenställen – ein Prachtsexemplar unter den übrigen Freizeitgebäuden – hatte er sich in den Abendstunden selbst zusammengezimmert. Der Ertrag aus der Pflanzung war eine willkommene Bereicherung für den Vorratsraum. So gelang es Mama, trotz des schmalen Haushaltungsbudgets täglich eine nahrhafte Mahlzeit auf den Tisch zu bringen.

      Als gelernte Schneiderin nähte Mama für uns hübsche Kleider. Oft sah ich ihr zu, wie sie auf der alten Singer-Tretnähmaschine Naht um Naht zusammenfügte. Dabei sang sie uns mit ihrer hellen Stimme Lieder vor; Lieder, die man heute kaum mehr kennt. Wie etwa das Lied vom Blümchen Ig ha am ene Ort es Blüemli gseh oder «Das Laub fällt von den Bäumen».

      Einmal legte sie die Arme um Elsbeth und um mich, spazierte mit uns durch Zimmer und Korridor und sang das Lied:

      Dür ds Oberland uf,

       dür ds Oberland ab,

       da han i zwöi Schätzli,

       wär chouft mir eis ab.

      Sofort reagierten wir beide und flehten Mama an: «Bitte Mama, verkauf uns nicht.»

      «Nein, wie sollte ich auch», tröstete sie uns.

      Dass dieser Text aber in nicht allzu ferner Zeit für uns in gewisser Weise Wirklichkeit werden sollte, hätte niemand von uns je für möglich gehalten.

      Mamas Eltern besassen im Sulgenbachquartier ein altes Fünffamilienhaus, in dem sie das unterste Geschoss selbst bewohnten. Die Grossmutter pflegte mit Hingabe ihre Rosen, die sie im grossen Garten angepflanzt hatte, während der Grossvater als Schuhmacher auf dem Beschlagfuss herumhämmerte. Hinter dem Hause sprudelte der alte Brunnen, den wir oft und zu Mamas Leidwesen in unser Spiel mit einbezogen.

      Um ins Sulgenbachquartier zu gelangen, benutzten wir die gedeckte rote Brücke, die den unteren Breitenrain mit der Stadt verband. Diese Brücke hatte ihre Tücken. Auf dem Dach dieser Aareüberquerung fuhren die Züge vom und zum nahen Bahnhof. Wenn nun gleichzeitig mit den lärmenden ­Zügen die Bereiter von der nahen Reithalle auf ihren Pferden kamen und über diese Brücke gingen, bäumten sich die erschreck­ten Tiere wild auf und tanzten und stampften auf zwei Beinen in der ganzen Passage herum.

      Niemand wollte diesen wildgewordenen Pferden begegnen. Bevor wir jeweils diesen tunnelähnlichen Übergang benutzten, setzte Mama uns Mädchen in den hochrädrigen Kinderwagen, wartete eine günstige Zeit ab und rannte dann, was Lunge und Beine hergaben, durch die Passage, begleitet von Markus, der Mamas Tempo mühelos mithalten konnte. Oft fand ein regelrechtes Kinderwagenrennen in dieser gedeck­ten Aarebrücke statt.

      Papas Vater, seit etwa zwei Jahren verwitwet, wohnte ganz in unserer Nähe, ebenfalls in seinem eigenen Haus. Er besass wie der Sulgenbach-Grossvater eine Schuhmacher-Werkstatt. Dazu beschäftigte er noch einen Gehilfen.

      Unserem Grossvater war Mama nicht genehm. Er hatte sich für seinen einzigen Sohn eine andere Schwiegertochter vorgestellt. Das liess in der Ehe meiner Eltern eine gewisse Disharmonie keimen. Dazu kam die Arbeitslosigkeit, die ganze Berufsschichten zum Stempeln zwang. Papa musste manchmal auch mit der Arbeit auf dem Bau aussetzen. Dann arbeitete Mama wieder als Verkäuferin im Warenhaus Loeb. Damit gelang es, die Familie einigermassen über Wasser zu halten.

      Es war schon herbstlich kalt, als wir in eine andere Wohnung zügelten. Sie lag nicht weit vom alten Wohnort entfernt. Der Wohnblock stand auf dem einstigen goldenen Blumenfeld, Papa machte beim Umzug widerwillig mit. Er fand, dass ein Wohnungswechsel in dieser schweren Zeit nicht das Nötigste gewesen wäre. Mama setzte sich aber durch. Sie wünschte sich begreiflicherweise etwas mehr Komfort. Die neue Wohnung war grösser und heller als die bisherige, verfügte über eine Veranda, ein modernes Badezimmer und eine Mansarde.

      Das Verhältnis meiner Eltern wurde immer angespannter. Eines Tages erschien Papa nicht mehr zu Hause, sein Platz am Tisch blieb leer. Mama erklärte uns, wir würden von nun an ohne Papa in diesem Haushalt leben müssen.

      Sie holte den geflochtenen Reisekoffer vom Estrich, füllte ihn mit Papas Kleider und Effekten und stellte ihn im Korridor zum Abholen bereit. Am folgenden Morgen war dieses Gepäck nicht mehr da. Dies alles schien mir so hart, so endgültig.

      Papa fehlte mir sehr. Nun hatte ich niemanden mehr, dem ich auf die Knie klettern konnte, der mit mir «Käse kehren» spielte, mir Tierbücher zeigte und den Atlas erklärte. Jeweils am Sonntagvormittag holte Papa mich zum Spaziergang ab. Dann wanderten wir durch die langen Alleen, die in Bern-Ost aufs Land hinausführten. Papa konnte bei seinem Vater in einer Dachstube wohnen, wo ich ihn oft besuchte.

      Meine Schwester konnte sich nach einer längeren Diphterieerkrankung nicht mehr problemlos an eine neue Klasse gewöhnen. Sie blieb oft der Schule fern. Das ging so weit, bis sie im Unterricht nicht mehr geduldet wurde. Man brachte sie in ein Kinderheim nach Kirchlindach.

      Unsere neue Wohnung musste auch gepflegt und gereinigt werden. Da Mama ganztägig arbeitete, blieb ihr dafür wenig Zeit. Nun dachte sie an die Anschaffung eines Staubsaugers. Tatsächlich erschien bald darauf ein Reisender mit einem solchen Luxusgerät und führte es Mama und uns staunenden Kindern vor.

      Mama benahm sich seltsam, wie ich sie nicht kannte. Zudem war mir sofort klar, dass mir dieser Mann schon einmal begegnet war! Es blieb nicht beim einzigen Besuch, mehrmals kam der Vertreter vorbei, bis der Staubsauger endlich gekauft wurde. Als dann dieser Mann einmal mit lederner Motorradmütze und einer Schutzbrille bei uns erschien, erinnerte ich mich. Ich erkannte den Mann, den Mama vor mehr als einem Jahr «zufällig» beim Spitalacker-Schulhaus getroffen hatte, als wir Elsbeth von der Schule abholen wollten. Mama hatte den Blick nicht aufs Schulhausportal gerichtet, wo Elsbeth hätte erscheinen sollen, sie schaute auffallend nervös gegen die Strasse hin. Bald kam ein Fahrer angebraust und hielt exakt neben Mama an. Der Mann trug eben diese Ledermütze, plauderte vertraulich mit Mama, ignorierte mich und löste dadurch bei mir Eifersucht aus. Auf dem Nachhauseweg erhielt ich von Mama Schelte, weil ich mich trotzig benommen hätte.

      Wozu sollte ich einem Fremden gegenüber freundlich gesinnt sein, von dem ich fühlte, dass er zu meinem Nachteil im Begriff war, die Gunst meiner Mutter zu erlangen – oder schon erlangt hatte! Ich vergass diese Begegnung, bis dieser Fremde in erwähnter Montur in unserer Wohnung auftrat.

      Er war Mamas Freund. Papas verschiedentliche Versuche, zu uns zurückzukommen, scheiterten, weil sich dieser Karl, wie er hiess, nicht mehr aus Mamas Leben verdrängen liess. Ein gerichtlicher Entscheid verfügte, dass wir Kinder, einem damaligen Vorrecht der Mütter entsprechend, der Mama ­zugesprochen wurden. Das war ein schicksalsträchtiger Beschluss.

      Im folgenden Frühling begann nun auch für mich die Schulzeit. Ich wurde ins imposante Spitalacker-Schulhaus eingewiesen. Einen neuen Schulsack erhielt ich nicht. Irgend­wo konnte Mama eine alte abgewetzte Segeltuchtasche mit den entsprechenden Tragriemen auftreiben, die ich dann in der Schule neben die nigelnagelneuen Taschen meiner Mitschülerinnen hängen musste.

      Karl ging jetzt ungehindert in unserem Haushalt ein und aus, durfte aber noch nicht bei uns wohnen. Nach einer Intervention Papas hatte er die Schlafstätte in unserer Wohnung verlassen müssen. Papa hatte unserer Mutter erklärt, er weigere sich, ihr den monatlichen Mietzins zu bezahlen, solange sich dieser Eindringling in unserer Wohnung eingenistet habe. Demzufolge musste Karl das Feld räumen und sich mit der Dachkammer im Nebenhaus begnügen, die ihm Mama mit Kleinmöbeln und Wäsche aus unserer Haushaltung wohnlich eingerichtet hatte. Markus und ich fühlten, dass wir verdrängt wurden. Platz Nummer eins hatte Karl eingenommen.

      An einem Sonntag besuchten wir Elsbeth im Kinderheim. Markus war nicht dabei. An der Postautohaltestelle am Bollwerk liessen Mama und Karl mich draussen warten, während sie das Billett lösen gingen. Plötzlich wurde ich von hinten hochgehoben und ins Postauto gestellt. Vor Schreck schrie ich laut auf, ich sah nicht, wer mich kidnappte. Der Chauffeur höhnte: «Wer wird jetzt dermassen schreien, wenn man schon Postauto fahren darf.»

      Als


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