Der deutsche Wortschatz. Christine RömerЧитать онлайн книгу.
ist doppelt gegliedert, d.h. neben einer inhaltlichen Strukturierung ist auch eine rhythmische Organisation vorhanden. Während die Morpheme die inhaltlichen Grundeinheiten sind, die es ermöglichen, auch bisher unbekannte Wörter zu interpretieren, bilden die Silben auf der Ausdrucksebene die Sprechgrundeinheiten, da sie sich auf einen Zug aussprechen lassen. Sie bilden sich unabhängig von ihrer Bedeutung. Das Wissen um sie, ermöglicht es, auch bei neuen Wörtern eine Resilbifizierung vorzunehmen. Außerdem sind sie maßgeblich für die deutsche Worttrennung am Zeilenende (Silbentrennung). Im Deutschen ist die Morphemstruktur mit der Silbenstruktur häufig nicht übereinstimmend, beispielsweise bei biegen (bieg+en [bi:.gən]) (genauer in Römer und Voß, 2010). Römer, C.Voß, H.
Hinsichtlich der rhythmischen Wortstruktur sind einsilbige von den mehrsilbigen (silbig komplexen) Wörtern zu unterscheiden, Beispiele nachfolgend:
Baum, Maus, … = einsilbig
ha-ben, Mie-te … = zweisilbig
ein-tei-len, Schluss-leuch-te … = dreisilbig
Tret-boot-ver-leih, Ze-bra-strei-fen … = viersilbig
Cha-rak-te-ris-tik, Pup-pen-the-a-ter …= fünfsilbig
…
Zusammenfassend unterscheiden wir nach unterschiedlichen Kriterien (Transparenz, Wort- und Wortformenbildung, Lexikalisierung, Silbigkeit) synchron folgende Arten von komplexen Wörtern (KW):
1 morpho-semantisch transparente KW
2 eingeschränkt kompositionell transparente KW
3 KW mit derivationellen Wortbildungsmarkern
4 zusammengesetzte Bildungen KW
5 usuelle KW
6 okkasionelle KW (Augenblicksbildungen)
7 phonologisch KW (Mehrsilber) Wörter;komplexe
3.3 Wortbildung Wortbildung
3.3.1 Funktion der Wortbildung WortbildungFunktion
Der Wortschatz ist ein dynamisches System, das sich in ständiger Veränderung befindet. Ein Aspekt dabei ist die potentiell unbegrenzte Wortschatzerweiterung durch die Bildung neuer Wörter. Dabei werden unter Zuhilfenahme des vorhandenen Sprachmaterials neue Wörter (= Wortbildungen) geschaffen. Die Bildung neuer Wörter erfolgt auch in Analogie zu den vorhandenen, beispielsweise Hausfrau > Hausmann, rauchen > dampfen. Die Wortbildungslehre, ein Teilgebiet der Morphologie, hat aus der Analyse der vorhandenen Wörter „Normen“ für das Bilden von Wörtern abgeleitet.
Die Bildung von komplexen Wörtern schließt Bezeichnungslücken und eröffnet die Möglichkeit Texte zu verdichten, indem aus syntaktischen Fügungen kürzere Wörter werden, beispielsweise Der Pullover kann gewaschen werden, er ist waschbar. Die Komprimierung wird oft bei der Komposition übertrieben. Es entstehen dann sogenannte besonders lange Bandwurmwörter Bandwurmwortwie Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung.
(Zu dem Sprachwissen, das wir uns aneignen, gehört auch) ein Wissen um die Funktionalität der Wortbildung. Da es keine einfache Funktionszuordnung gibt, haben Wortbildungen, je nach den Textteilen, in denen sie vorkommen, und je nach der stilistischen Intention des Textes, einen unterschiedlichen Platz, und bedingt auch die Präferenz für unterschiedliche bzw. auch unterschiedlich auffällige Bildungen.
(Eichinger, 2012, S. 30)
Das oben angeführte Bandwurmwort ist stilistisch eindeutig als Wort aus der Rechtssprache erkennbar und für die Alltagssprache nicht geeignet. Die morphologisch inkorrekte Wendung Hier werden sie geholfen wurde in der Werbesprache sehr bekannt, da dort Auffälligkeit ein Merkmal ist. In anderen Textsorten wird sie als Bildungsdefizit angesehen. Wie in Römer (2012) dargestellt, gibt es für Werbetexte spezielle Wortschatzgruppen. Beispielsweise treten Hochwertwörter wie biologisch oder fair oftmals auf fair(Beispiel in 3.0), diese gehen dann in dieser Textsorte auch häufig in Wortbildungen ein.
(3.0.) | Biomineralwasser; biologisch-dynamische Präparate; Bio-Spiral. Der rein biologische Abflussreiniger Fairness im Handel; Fair Fashion; Unter dem Motto „Fairer Wein – Qualität und Genuss“ hatten die Fairtrade-Stadt Homburg und der Fairtrade-Kreis Saarpfalz … |
3.3.2 Typen, Muster und Regeln
Bezüglich der Regelhaftigkeit der Wortbildung kann man zwischen Typen, Mustern und Regeln unterscheiden (ausführlicher in Römer, 2015):
Die Wortbildungstypen sind die grundlegenden Verfahren, die nach der Art der verwendeten Bestandteile differenziert werden. In der Regel unterscheidet man für die deutsche Sprache die Komposition (Wortzusammensetzungen) und Derivation (Wortableitungen). Manche, wie Donalies (2007), nehmen noch die Kurzwortbildung als dritten Typ an. Andere sehen sie als Sondertyp an. WortbildungTypen
Wortbildungsmuster knüpfen an die Typen an und subklassifizieren und charakterisieren diese weiter entsprechend dem morpho-syntaktischen, morpho-phonologischen und/oder morpho-semantischen Status der Bestandteile. Aufgrund dieser Status-Beschreibungen werden mögliche Wortbildungen vorhergesagt. WortbildungMuster
Als eine Form der produktiven Muster werden auch kognitiv verankerte morpho-syntaktische Schablonen (Konstruktionen) im Rahmen der Konstruktionsgrammatik angesehen. „Konstruktionen Im Rahmen dieser Grammatikkonzeption bestehen Konstruktionen für komplexe Wörter entweder aus freien oder aber zum Teil bereits gefüllten Slots.“ (Michel, 2014, S. 2) Nach dieser Theorie treten Affixe im Gegensatz zu Wörtern nur innerhalb von Konstruktionen auf und sind an komplexere Einheiten gebunden (siehe weiter Michel, 2014, Kap. 4.2). Michel, S.Konstruktionsgrammatik
Beispielsweise kann man für das sehr produktive Suffix -er, das mehrdeutig ist, für die explizite Substantivableitung (Nomen Agentis) von verbalen Wortgruppen (Fliesen legen → Fliesenleger, Ofensetzer, Dachdecker …) ein spezielles Konstruktionsmuster annehmen und wie nachfolgend veranschaulichen (Abbildung 3.1). Für Nomina agentis gibt es viele konkurrierende Ableitungssuffixe, beispielsweise -ler (Tischler) -ner (Schaffner) oder -e (Putze). Diese müssten dann nach der Annahme eigene Schemata erhalten.
In dem ersten, allgemeinen Schema haben wir einen leeren Slot für Verbphrasen (VP); in dem zweiten, speziellen ist dieser ausgefüllt.
Abbildung 3.1: -er-Derivationsschema
WortbildungRegeln Wortbildungsregeln sind dynamisch, rekursiv (mehrfach an einem Objekt anwendbar) und werden als kreative, implizite Elemente des menschlichen Sprachvermögens angesehen. Sie sind aus den Mustern ableitbar, jedoch auf den Erzeugungsprozess orientiert. Die Derivationsregeln sind danach „Regeln, die ein neues Wort aus alten Wörtern bilden.“ (Pinker, 2000, S. 38) Die Kompositionsregeln bilden die „Zusammenfügung von Wörtern bzw. Wortstämmen zu einem neuen Wort“ ab. (Sternefeld, 2006, S. 4) Sternefeld, W.Die Anwendung der Wortbildungsregeln unterliegt Restriktionen, die ihre Anwendungen verhindern können.
Neben Regeln werden auch abstrakte, allgemeine Prinzipien angenommen, die erklärende Funktionen haben. PrinzipFregeSo nimmt man für Bedeutungsbeschreibungen ein semantisches Kompositionalitätsprinzip (auch „Frege-Prinzip“) an. Dies besagt, dass sich die Bedeutungen komplexer Ausdrücke aus den Bedeutungen der Bestandteile und der Art, wie sie zusammengefügt sind, ergeben. Beispielsweise ergeben sich die Gesamtbedeutungen der Adjektivkomposita (wie dunkelblond und schwarz-rot gestreift) aus den Bedeutungen der Teile und aus den Strukturtypen der Zusammenfügung: dunkelblond ist eine determinative Komposition, der zweite Teil bestimmt den ersten; schwarz-rot ist dagegen eine kopulative Fügung, was durch den Bindestrich signalisiert wird.