Genderlinguistik. Helga KotthoffЧитать онлайн книгу.
Studien selten Austins Werk zugrunde, weil es im Unterschied zu demjenigen von Goffman und Garfinkel und vor allem deren Weiterentwicklungen in Linguistik und Soziologie bei ihm nur um isolierte Äußerungen geht, um einzelne Sprechakte. In Wirklichkeit finden Sprechakte aber Eingang in Dialoge, in denen auf sie reagiert wird. Die linguistische Geschlechterforschung tut gut daran, sich in dialogische Traditionen einzureihen, weil hier auch die überzeugenderen Zugänge zur Empirie von Diskursen und Interaktionen zu finden sind (Linell 1998). In Kap. 13 werden wir sehen, dass Reaktionen Sprechhandlungen mitunter überhaupt erst konstituieren. Auch vermag Sprache nicht das Subjekt herzustellen, steht sie doch vom ersten Tag an auch im Kontext außersprachlicher Handlungen und Gegebenheiten. Ob ein Kind beispielsweise in Armut oder Reichtum aufwächst, hängt mit außersprachlichen Gegebenheiten zusammen und lässt sich sprachlich-diskursiv kaum umkonditionieren.
2.4.2 Sind sexuelle Präferenzen für Identitäten immer zentral?
Different fällt auch aus, wie die Butler’schen „queer studies“ und die sozialkonstruktivistische Genderforschung Identität konzipieren. Butler und Lacan setzen die geschlechtliche Identität des Menschen als zentral an. Innerhalb der GeschlechtsidentitätGeschlechtsidentität ist wiederum die Dimension der sexuellen Präferenz kontextübergreifend ausschlaggebend. Selten geht es darum, wie sich beispielsweise Berufe oder Tätigkeitsfelder in Identitäten einschreiben (ein nicht zu unterschätzender Faktor). Immer liefert das Homo- oder Heterosexuellsein scheinbar den entscheidenden Hebel zum Handeln in der Welt.
Soziale Identität wird von den meisten Sozialwissenschaftler/innen als der Teil des Selbst gesehen, der innerhalb einer soziokulturellen Lebenswelt ausgearbeitet werden kann. Persönliche Identität bezieht sich im Unterschied dazu auf die Einzigartigkeit des Individuums innerhalb einer individuellen Lebensgeschichte und ist somit so etwas wie die Kontinuität des Ich. Krappmann (1978, 39) fasst diesen Unterschied so zusammen:
Obviously, identity is both simultaneously: the anticipated expectations of the other and the individual’s own answers. G.H. Mead took this dual aspect of identity into account in his concept of the self, which contains a “me” that is the adopted attitudes of the other, and an “I”, the individual’s answer to the expectations of the others.
Obwohl viele AutorInnen, so auch Butler, von „Identität“ im Singular sprechen, hat sich in der Soziolinguistik längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass Menschen in der Regel unterschiedliche Identitäten aufführen und ihre Einzigartigartigkeit eher im speziellen Verschnitt dieser Aufführungen liegt.
Wir alle leben im Alltag mehrere Rollen (als Tochter, Mitglied eines Sportclubs etc.) und sind mit unterschiedlichen sozialen Gruppen verbunden. Individuen konstruieren ihre sozialen Identitäten auf der Basis verschiedener Parameter, darunter Nationalität, Geschlecht, Alter, Hobby, Beruf etc. (Duszak 2002, 2). Das Konzept der sozialen Identität muss deshalb als vielschichtig und sehr dynamisch angesehen werden. Mehrfachmitgliedschaften sind der Normalfall.
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wurden verschiedene konstruktivistische Herangehensweisen an Gender vorgestellt. Weil Macharten und Relevantsetzungen von Gender in unterschiedlichen Kontexten rekonstruiert werden sollen, erscheinen Ansätze wie das doing gender und das indexing gender als vielversprechend. Da uns die Analyse von Genderindices in vielen Kapiteln beschäftigen wird, wurde dieser Ansatz oben schon umrissen. In der Genderlinguistik arbeiten wir mit einem fluiden Verständnis von Identität, deren lokale Kommunikation und die Verfahren ihrer Anzeige uns am meisten interessieren. Gender ist zwar eine zentrale soziale Kategorie, jedoch dominiert sie nicht unser gesamtes Handeln fortlaufend. Außerdem tritt sie in Überlappung mit anderen sozialen Kategorien wie Alter oder StatusStatus (sozialer) auf. Solche Ko-Artikulationen müssen empirisch nachgezeichnet werden können und vertragen keine Vorab-Einengungen.
3. Prosodie und Phonologie
Landet man auf dem Frankfurter Flughafen auf einer Außenposition und wird mit dem Bus zum Flughafengebäude gebracht, macht man eine überraschende Erfahrung: Aus dem Lautsprecher des Busses ertönt – eine ganz normale Frauenstimme! Sie heißt unaufgeregt die Fluggäste willkommen und rät Weiterreisenden, sich wegen der Gates ans Flughafenpersonal zu wenden. Was im Gegensatz zu üblichen weiblichen StimmenStimme im öffentlichen Raum (Bahnansagen, Werbung, Filme etc.) frappiert, ist, dass die Stimme sich nicht vor guter Laune und Freundlichkeit überschlägt, dass auch kein Gesäusel oder erotisches Gehauche zu vernehmen ist: Die Frau spricht als erwachsener, kaum genderisierter Mensch. Ihre StimmeStimme ist tief und entspannt, Sprechtempo und Stimmführung sind gleichmäßig und eben. Dies verdeutlicht, was ‚normalerweise‘ mit öffentlichen Frauenstimmen ‚passiert‘: Es wird overdoing genderoverdoing gender betrieben. Frauenstimmen werden Kinderstimmen angeglichen, oft wirken sie emotional und impulsiv. Männerstimmen werden dagegen monotoner inszeniert und wirken dadurch kompetenter (Kotthoff 2001). Der Einsatz weiblicher und männlicher StimmenStimme speziell in der Werbung wird in Kap. 14 vertieft.
In Deutschland und vielen anderen Gesellschaften wird Geschlecht prosodisch (suprasegmental) an die StimmeStimme geheftet. Damit setzt dieses akustisch wahrnehmbare Merkmal direkt am Körper an, ähnlich wie Gestik und Mimik, die visuell wahrnehmbar sind. Diese Körpernähe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass StimmenStimme im Laufe des Lebens erworben und gestaltet werden, ebenso wie Gestik und Mimik, und dass alle drei gerne naturalisiert (für angeboren gehalten) werden.
3.1 Prosodie
Die eingangs geschilderte Erfahrung macht deutlich, wie konstruiert weibliche und auch männliche StimmenStimme sind. Dies betrifft nicht nur Stimmen im öffentlichen Raum, auch die individuellen StimmenStimme enthalten weitaus mehr Kultur als Natur. Kaum etwas anderes an der Sprache hält man für so stark biologisch festgelegt wie die Stimme. Man muss sich jedoch nur in andere Gesellschaften begeben, um schnell festzustellen, dass die Menschen dort per se höhere, tiefere, rauhere, feinere, engere, sonorere, lautere etc. Stimmen bzw. modulierendere oder monotonere Stimmverläufe haben können als in Deutschland. Auch ein und dieselbe Person kann an sich selbst feststellen, dass sie beim Gebrauch einer anderen Sprache (z.B. Französisch) ihre Stimme anhebt (oder senkt). Selbst innerhalb Deutschlands gibt es Unterschiede: Eine StimmeStimme aus Bayern klingt anders als eine aus Hamburg. Niemand würde dafür Gene, Berge oder Meeresnähe verantwortlich machen. Man braucht auch nur 50 oder 80 Jahre zurückzugehen, um festzustellen, dass die StimmenStimme damals anders klangen. Frauenstimmen waren „nachgerade neurotisch“ hoch (Slembek 1995, 113). Diese kulturelle Stimmgestaltung umfasst ebenso die Genderisierung der StimmeStimme (Graddol/Swann 1989, 18–40). Es deutet vieles darauf hin, dass der größte Anteil an Stimm‚beschaffenheit‘ auf das Konto des sozialen Geschlechts (Gender) geht, also erlernt wird. Da Stimmen die Sprache nicht nur begleiten, sondern maßgeblich tragen, vermelden sie beständig die Geschlechtsinformation. Mehr noch als eine genderisierte Grammatik und Lexik prozessiert die Stimme permanent die Geschlechterdifferenz.1
Nach Geissner (1991, zit. in Slembek 1995, 110) entfallen bei der Wirkung einer SprecherIn nur 30 % auf Wörter und Sätze und 70 % auf das Wie des Sprechens. Das heißt, der Prosodie ist höchste Relevanz bzgl. der Glaubwürdigkeit des Gesagten beizumessen.
3.1.1 Die StimmgrundfrequenzStimmgrundfrequenz
Um SkeptikerInnen gleich entgegenzutreten: Natürlich(erweise) haben Männer – kehlkopf- und stimmbandlängenbedingt – im Schnitt eine etwas tiefere sog. Stimmgrundfrequenz, d.h. ihr Spektrum oszilliert um ca. 100 Hz, das der Frauen um ca. 170 Hz (das heißt, die Glottis oder Stimmritze öffnet und schließt sich ca. 100- bzw. 170-mal pro Sekunde; zu Details der StimmeStimme s. Titze 1989; Moosmüller 2002). Diese Spektren variieren jedoch individuell stark, was zu Tonhöhenüberschneidungen zwischen den Geschlechtern führt: Es gibt viele Männer, deren Stimme natürlicherweise im unteren ‚weiblichen‘ Spektrum liegt bzw. umgekehrt sprechen viele Frauen im oberen ‚männlichen‘ Spektrum (ein