Genderlinguistik. Helga KotthoffЧитать онлайн книгу.
ca. 100 Types, deren Entstehung sie im 17./18. Jh. vermuten. Das Cluster ist weiterhin produktiv, was Anglizismen wie das Girl, Pin-up, Playmate, Model, Hottie, Bunny, Groupie belegen. Das Muster speist sich aus Metaphern, Metonymien und Diminutiven, auch aus (heute) genuinen Frauenbezeichnungen wie WeibWeib, MädchenMädchen, FrauenzimmerFrauenzimmer (s. dialektal verächtlich das MenschMensch).
Auch für zahlreiche Dialekte werden pejorative Neutra beschrieben, etwa von Dahl (1961) für das Mecklenburgische: „Solch abwertendes N. verdrängt sogar das natürliche Geschlecht: Frugensperson ist N. neben F.; Minsch, bes. Frugensminsch, hat wie das Hd. das N. für die negative sittliche Wertung ausgesondert; Unglücksworm N. gegenüber Worm M. als Tier; Balg als Schelte für Kinder ist N., sonst M. […]ma“ (199). Historisch sind negative Neutra ebenfalls belegt: „‚Das Mensch‘ und ‚der Kerl‘ – Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760)“ heißt eine soziologische Untersuchung von Gleixner (1994). Die der „Unzucht“ angeklagten Frauen wurden in den damaligen Verhörprotokollen meist das MenschMensch oder das Weibsstück genannt. – In heutigen Schweizer Dialekten bezeichnet FräuleinFräulein im Neutrum (s Fröili) eine ledige Frau, im Femininum (d Fröili) dagegen eine Lehrerin, also die sozial unabhängige, berufstätige Frau. Auch Schirmunski (1962, 445) beobachtet, dass in Dialekten WeibWeib im Fall einer ledigen Frau neutral pronominalisiert wird, im Fall einer verheirateten feminin.
War mhd. wīp noch der allgemeine, wertneutrale Ausdruck für die Frau, hat es eine der klassischen Pejorisierungen zum Schimpfwort erfahren (Kap. 8). Andere Neutra steuern direkt die abwertende Domäne an: das Reff, Aas, Luder, Ferkel, Stück (Mist-/Weibsstück), Ding, Schaf, Klappergestell, Entchen, Ekel, Flittchen, Loch, Aschenputtel.4 Wichtig ist, dass es neben der negativen Semantik vor allem das neutrale Genus ist, das abgeschöpft wird, denn dieses kommt bei männlichen SchimpfwörternSchimpfwörter weitaus seltener vor. Wie eine aktuelle (2015) studentische Untersuchung anhand des Duden-Universalwörterbuchs von 2003 herausfand, sind hier nur sehr wenige genuin männliche Neutra verzeichnet (die den Mann als Versager ausstellen): das Muttersöhnchen, Bürschchen, Jüngelchen, Weichei. Einige andere werden überwiegend Männern zugewiesen: das Arschloch, Schwein, Mistvieh, Großmaul.5 Dabei könnten über Metaphern und DiminutionDiminution auch für Männer viele Neutra generiert werden. Dies unterbleibt jedoch weitgehend (was nicht heißt, dass es für Männer keine degradierenden Ausdrücke gäbe, es sind nur auffällig wenige Neutra). Dies erklärt umgekehrt die vielen Diminutiva für Frauen: Einerseits drücken sie Kleinheit, Unwichtigkeit und Verfügbarkeit aus, andererseits produzieren sie Neutra. Bei MädchenMädchen ist der Diminutiv längst lexikalisiert, potentiell paralleles Jüngchen/Jünglein wurde jedoch nie gebildet (ähnliches gilt für FräuleinFräulein entgegen *Herrlein/Herrchen). Wie König (2005, 166f.) zu entnehmen ist, sind sämtliche Dialektwörter für Mädchen Neutra: das MenschMensch, Mäken/Mädle/Madl, Diandl, Wicht, Luit, Famen, Deern (bei letzterem auch di Deern). Dagegen sind alle Jungenbezeichnungen (von denen es deutlich weniger gibt) maskulin: de(r) Junge, Bua, Kerle.
Auch in polnischen Dialekten sollen Lexeme für Mädchen und unverheiratete Frauen neutral und solche für verheiratete Frauen feminin sein. Der Wechsel vom Neutrum zum Femininum vollzieht sich direkt nach der Hochzeit, d.h. Heirat hebt vormals neutrale Frauen ins sexuskongruente Femininum an (Corbett 1991).6 Ähnliches beobachtet Robinson (2010, 151–170) bei der genusvariierenden Pronominalisierung weiblicher Figuren in den Grimm’schen Märchen, wo es-Mädchen zu sie-Mädchen aufsteigen, sobald sie geheiratet werden oder dies auch nur in Aussicht steht (der Mann sie also nur begehrt): „No marriage, no sie“ (ebd., 156). Männer verhelfen damit Frauen in ihr kongruentes Genus. Grundsätzlich stellt auch der Typologe Östen Dahl (2000) fest, dass wenn Menschen ein sexusdeviantes Genus oder sogar das Neutrum zugewiesen wird, dies mit ihrem „downgrading“ verbunden ist:
In many languages, speakers may achieve various secondary effects by using the ‘wrong’ gender for a referent, thereby as it were attributing to it the properties associated with that gender. Thus, it seems to be quite common in American English for inanimate objects to be referred to as he and she or for masculine pronouns to be used for women and vice versa or even for humans to be called it […].7 Such ‘upgrading’ and ‘downgrading’ may become more or less conventionalized […]. (Dahl 2000, 105)
Das Neutrum besitzt also das größte Pejorisierungspotential. Dies erklärt, weshalb das Englische bei der pronominalen Genusabstraktion im Singular (zur Vermeidung von pseudogenerischem he) auf singularisches they ausweicht oder auf Mischformen zwischen he und she, doch niemals auf it. Ebenso im Schwedischen, wo die unlängst kreierte genus- und sexusindefinite Form hen an sexusdefinites han ‚er‘ und hon ‚sie‘ anschließt (und unbelebtes det und den gemieden wurde).8 Auch diejenigen, die sich jenseits der dichotomen Geschlechtsklassifikation verorten, empfehlen zur Vermeidung jeglicher Geschlechtsassoziation nicht es, sondern kreative Mischformen aus sie und er, z.B. er_sie, si_er, sie_r, xier, x oder ecs (Kap. 6 und 10.3; AG Feministisch Sprachhandeln 2014/15).
Zusammenfassung
Die beiden Nominalklassifikationen Genus und Flexionsklasse sind eng mit Belebtheit und Geschlecht(ern) vernetzt. Die deutsche Grammatik ist subtil von einem ganzen Geflecht an Geschlechtsindikatoren durchzogen. Indem diese Kategorien in jedem Satz mehrfach aktiviert werden, verfestigen und perpetuieren sich diese Geschlechtsverweise. Weder Flexionsklassen noch Genus hatten ursprünglich die Geschlechterunterscheidung zum Ziel. Dies ist vielmehr Resultat späterer Reanalysen (Exaptation): Aus sprachhistorischer Perspektive zeigt sich, dass und wie überflüssige oder obsolet gewordene Formen mit neuen Funktionen angereichert werden und diese Funktionen um sozial so elementare und zentrale Unterscheidungen wie Belebtheit und Geschlecht(er) kreisen. Andere soziale Unterscheidungen wie Religion, Alter, Ethnizität etc. haben keine Grammatikalisierung erfahren, sie werden lexikalisch realisiert. Die sog. Genus-Sexus-RegelGenus-Sexus-PrinzipGenus-Sexus-RegelGenus-Sexus-Prinzip ist die sichtbarste Verschränkung von Grammatik und Zweigeschlechtlichkeit. Nur vor diesem Hintergrund erzielen ‚Verletzungen‘ dieser Regel besondere Effekte: Feminine Männer- oder neutrale Frauenbezeichnungen verweisen auf ‚Verletzungen‘ von Geschlechterordnungen.
Das nun folgende Kap. 5 zum sog. generischen Maskulinum dockt direkt an den Genuskomplex an und greift eine große Kontroverse auf, indem es danach fragt, ob maskuline Personenbezeichnungen unter bestimmten Bedingungen ihre Verweiskraft auf Geschlecht außer Kraft setzen können, ob also ein Hörer, der Bürger oder ein Kunde geschlechtsübergreifend verwendbar sind, indem damit Frauen wie Männer assoziiert werden. Diese Frage ist so zentral, dass wir ihr ein eigenes Kapitel widmen.
5. Das so genannte generische Maskulinum
Dieses Kapitel adressiert eine der größten Kontroversen in der öffentlichen Diskussion: Können maskuline Personenbezeichnungen wie Tourist, Einwohner, Leser, Pilot oder IndefinitpronomenIndefinitpronomen wie man, keiner, niemand geschlechtsübergreifend referieren, also von Geschlecht absehen? Kann das in ihnen enthaltene Maskulinum seine (in Kap. 4 belegte) Verweiskraft auf das männliche Geschlecht außer Kraft setzen oder zumindest reduzieren? Wie verhält sich dies im Plural? Für alle Substantive gilt, dass sie im Plural genusneutral sind, was bedeutet, dass keines ihrer Begleitwörter irgendetwas über Genus verrät. ‚Vergisst‘ man im Plural das Singulargenus, fördert der Plural eine ausgewogenere Repräsentation beider Geschlechter? Im Gegensatz zur öffentlichen Diskussion, die ohne Bezug zur Linguistik auszukommen pflegt, hat die (Psycho-)Linguistik diese Frage weitgehend