Bruder Tier. Karl KönigЧитать онлайн книгу.
Die Bärenrobben z. B., die den nördlichen Pazifik, von Alaska bis Kamtschatka, bevölkern, beginnen gegen Ende Mai auf ihren Brutplätzen zu erscheinen. Zunächst kommen die älteren, mächtigen Herren, und bald danach ziehen die jüngeren Seebären nach. Während des ganzen Monats Juni besteht ein dauernder Krieg um die geeigneten Lagerplätze. Jeder der älteren Bullen umgrenzt sein eigenes Revier, wenige Quadratmeter groß, mit einigen Steinen und Erdklumpen; vor allem aber mit seinem Zorn und seiner Eifersucht. Tausende Reviere liegen dann nebeneinander, und die jungen Männchen, die noch keinen Anspruch auf eine Nestbildung haben, halten sich mehr oder weniger respektvoll im Umkreis auf. Um die Johannizeit, bis hinein in die ersten Tage des Juli, entsteigen dann Tausende von Weibchen dem Meer und lassen sich von den Bullen in die Reviere führen. Je kräftiger das Männchen ist, umso größer ist die Zahl seiner Frauen. In wenigen Tagen danach sind die Kinder geboren, werden gesäugt, aufgezogen, und gleichzeitig geschehen die neuen Hochzeiten und Paarungen.
In der Antarktis, wo die südlichen Bärenrobben ihr Ausbreitungsgebiet haben, vollzieht sich das gleiche Geschehen, nur beginnt es im November und währt bis zum März des folgenden Jahres.
Während dieser ganzen Zeit nehmen die Robben keinerlei Nahrung zu sich. Das Leben ist jetzt nicht Raub und Jagd, sondern Muße und Nichtstun. Es ist auch Streit unter den Männern, es ist Liebesspiel und Behagen. Die Kälbchen wachsen heran und treiben ihren kindlichen Unfug. Wer die Möglichkeit hatte, wie Lockley3 durch viele Wochen bei einem solchen Brutplatz zu leben und seine Sitten und Zustände zu beobachten, ist immer wieder von der Zauberwelt dieses Daseins gefangen genommen.
Was sich auf allen diesen Plätzen, an welchen Flossenfüßer landen und sich niederlassen, abspielt, ist ein Bild ihres Eingebettetseins in den Sonnengang. Wenn das Tagesgestirn seiner jährlichen Kulmination zustrebt, dann steigen die Robben aus dem Meer ans Land. Sie folgen dem Aufstieg der Sonne. Nicht weil es wärmer wird und weil sie nun am Trockenen bessere Lebensbedingungen haben, verlassen sie das Meer. Das Tagesgestirn trägt sie mit seinem steigenden Licht aus den Tiefen des Wassers in die Höhen des Luftkreises. Es ist ein sommerlicher Einschlafprozess, der sich vollzieht. Die Robben werden von Traumbildern durchzogen und müssen sich ihnen hingeben. Dieser Bewusstseinswandel führt sie aus den Tiefen des Meeres ans Land. Sie hören auf zu essen, bereiten die Stätten ihres Liebeslebens vor und haben eine Art von Feriennacht. Ein Sommerschlaf beginnt über die verschiedenen Familien und Arten der Robben hinwegzuziehen.
Hier ist es umgekehrt wie bei den Zugvögeln. Diese vollziehen ihr Brutgeschäft als Tagearbeit. Die Robben haben es in ihren Nacht- und Traumbereich verlegt. Solche Unterschiede sind biologisch und erdgeschichtlich von großer Bedeutung und müssten viel eingehender, als das bisher der Fall war, untersucht werden. Wenn es dann Herbst wird und die Sonne ihre Kraft verliert und nach abwärts steigt, wachen die Robben wieder auf. Der Herbst ist ihre Morgenzeit. Dann gehen sie zurück ins Wasser und werden zu Räubern und Jägern; nun beginnen sie ihr Tagewerk. Diese Jahresperiodizität hat aber noch einen anderen Aspekt. Innerhalb des großen Säugetierkreises bilden die Robben (Pinnipedia) eine eigene Ordnung. Manche Forscher rechnen sie zu Raubtieren; einige Merkmale deuten auf die Hunde hin. Ihrem Charakter und ihrer Lebensweise nach ist es schwer, sie an bestimmte andere Ordnungen anzuschließen. Sie haben einzelne Züge, die sie den Raubtieren, andere, die sie den Elefanten verwandt sein lassen. Die Teilung zwischen einem marinen und einem terrestrischen Leben gibt ihnen den komplizierten Stil ihrer Existenz. Im Wasser sind sie Raubtiere; sie sind gefürchtete Jäger, und kein Fisch ist vor ihnen sicher. Dort können sie auch erstaunliche Schwimmleistungen vollbringen und sind kühn, keck und angriffsfreudig wie alle Raubtiere. Sie scheinen im Meer nicht in Herden zu leben, sondern bleiben Einzelgänger, die nur lose mit ihren anderen Artgenossen verbunden sind. Ausnehmendes Geschick und Geschmeidigkeit ist ihrer Motorik eigen. Auf dem Lande aber sind sie tölpelhaft; da die Oberarme und Oberschenkel sehr verkürzt innerhalb der Haut steckengeblieben sind und der Rest der Gliedmaßen zu flossenartigen Anhängen umgewandelt wurde, ist ihre Fortbewegung sehr erschwert. Sie kriechen und stemmen und schieben sich auf dem Boden entlang. Auch geben sie ihre Räuber- und Jägerallüren auf und werden friedlich. Sie schließen sich zu kleinen, an Huftiere erinnernde Herden zusammen. Ein Bulle regiert die ganze Herde, die aus einer verschieden großen Anzahl von Weibchen und dem sie umgebenden Jungvolk besteht.4 Auch Elefanten haben ähnliche soziale Vergesellschaftungstendenzen.
So pendeln die Flossenfüßer nicht nur zwischen Wasser und Land hin und her. Sie pendeln, was ihren Charakter betrifft, auch zwischen Raubtier und Huftier. Während ihrer Wachperiode gleichen sie den Ersteren; während der Traumperiode den Letzteren. Dazu kommen manche fast menschliche Züge oder zumindest anthropoid anmutende Züge. So wird nur ein einziger Säugling geboren und selten einmal Zwillinge. Die kleinen Kälbchen können greinen und Tränen vergießen und haben sogar ein Milchgebiss. Der menschenähnliche Ausdruck des Robbengesichts kommt dadurch zustande, dass die Augen groß und rund sind, und dass auch der Kopf eine fast kugelförmige Schädeldecke hat. So überragt die Stirne (bei manchen Arten, besonders den Seehunden) die Augen, und da auch das Maul nicht zu stark nach vorne geschoben ist, entstehen die humanen Züge des Gesichtes.
Als ich einmal in der Abenddämmerung am Strand von Tintagel stand, ganz nahe der Höhle Merlins, und das Meer sein dunkles Lied sang, tauchte plötzlich ein Seehund aus dem Wasser auf. Er blickte auf mich, neugierig, fragend, und unsere Augen begegneten einander. Es war ein Blick, wie ich ihn kaum jemals in solcher Unmittelbarkeit mit einem Tier gewechselt habe; ein Blick ohne Angst, ohne Scheu, mit vollem Verständnis für die Situation. Damals begann ich für das Rätsel dieser seltsamen Tiere aufzuwachen.
Lebensraum und Ursprung
Erdgeschichtlich weisen keine Vorfahren auf die Robben hin.5 Ihre von der Paläontologie beschriebenen Skelette und Skelettabdrücke zeigen die gleichen Strukturen, die auch bei den jetzt lebenden Arten zu finden sind: die stummelförmigen Gliedmaßen, der zurückgebildete Schwanz und die charakteristische Bildung der Zähne. Die Funde wurden fast ausschließlich in denjenigen geologischen Schichten gemacht, die den beiden Ausgangszeitaltern des Tertiärs, dem Miozän und Pliozän entsprechen.
Die Tatsachen weisen mit deutlicher Sprache darauf hin, dass die Ordnung der Robben erdgeschichtlich spät und wahrscheinlich auch sehr plötzlich entstanden ist. Wo immer auch ihre Reste aufgefunden werden, zeigen sie ihre charakteristischen Merkmale, ohne Vorstufen und ohne Übergänge. Plötzlich, in voller und vollendeter Ausbildung, sind sie da.
Es kann zunächst kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass die Robben ursprünglich Landtiere gewesen sind. Auch heute noch sind sie Lungenatmer, und die Neugeborenen sind so organisiert, dass sie während der ersten Lebenszeit nicht im Meer leben können. Deshalb müssen wir vorerst annehmen, dass alle Robben vom Land ins Wasser gegangen sind und wie in träumendem Erinnern, von der Sonne geführt, alljährlich in die Heimat ihres Ursprungs zurückkehren.
Wo liegen die Gestade, zu denen sie ihre Wege finden, und wo haben die Robben ihre hauptsächlichsten Brutplätze? Die letzten Erhebungen über die geographische Verbreitung aller Flossenfüßer zeigen eindeutig, dass die ursprünglichen Zentren, um die herum sie lebten, die beiden Polargebiete waren. Die Arktis sowohl als die Antarktis sind heute noch ihr Lebensraum.6
Bestimmte Arten wie z. B. die Seeleoparden, manche Stämme der Seelöwen und Elefantenrobben sind Bewohner der Antarktis. Andere steigen zur Paarung und Brutpflege auf viele Inseln und Halbinseln, die dem Nordpol vorgelagert sind. Grönland und Island, die östlichen und westlichen Gestade Nordkanadas und die zwischen Amerika und Asien sich ausbreitende und von Alaska bis Kamtschatka und Sachalin reichende Inselwelt sind ihre Heimat. Da die Robben ihren Sommerschlaf und Sommertraum ohne Nahrungsaufnahme zubringen, ist die öde, steinige, oft eis- und schneebedeckte Welt der polaren Gestade ein mögliches Lebensgebiet für sie.
Manche Robben aber, besonders aus der Unterordnung der Seehunde, finden ihren Weg, den Küsten entlang, nach dem Süden. In Europa sind sie in Irland, Wales und Cornwall regelmäßig zu sehen. Sie können in Portugal erscheinen, und eine bestimmte Gruppe, die Mönchsrobbe, bevölkert sogar die Küsten des Mittelmeeres. Je südlicher sie wandern, umso undeutlicher wird die Jahresperiodik ihres Daseins. Sie spielen dann zwischen