Sinclair Lewis: Die großen Romane . Sinclair LewisЧитать онлайн книгу.
zum Altar zu kommen, soundsoviel Ansprachen an Arbeiter bei ihren Essenkannen, soundsoviel Hausgebete und ihre Länge – wurde von Elmer und der Direktrice für persönliche Arbeit Buch geführt und daraus mit einiger Phantasie die Bilanz gezogen, die Sharon als Bericht nach den Meetings und als Ausgangspunkt für die Chancen künftiger Meetings war.
Elmer hatte mit Adelbert Shoop, dem schmachtenden, einfältigen Tenor, der mit der Musikleitung betraut war, täglich eine Zusammenkunft, um die Hymnen auszuwählen. Manchmal mußte man singen: »Sanft und zärtlich rufet Jesus«, um das Publikum in Zutrauen einzulullen, manchmal war es notwendig, ein Gefühl primitiver Brüderlichkeit in ihnen zu erwecken; dann sang man:
»Es ist die gute alte Religion –
Sie war gut genug für Paul und Silas
Und ist gut genug für mich –;«
und manchmal hatte man sie mit Melodien wie »Am Kreuze« oder »Vorwärts, christliche Soldaten« anzufeuern. Adelbert machte sich Gedanken über etwas, was er »Anbetung durch Lieder nannte,« doch Elmer war der Ansicht, der wahre Zweck des Singens sei, das Publikum in eine geistige Verfassung zu bringen, in der es alles tun muß, was man von ihm verlangt.
Er lernte, auf der Schreibmaschine mit zwei Fingern Briefe zu schreiben, und erledigte Sharons Post – das heißt, was sie ihn davon sehen ließ. Er führte auf Scheckbuch-Kontrollblättern Buch für sie, salopp, aber hinreichend. Er schrieb allabendlich die Geschichte ihrer Predigten, die von den Zeitungen zusammengestrichen und zwischen Berichte von bemerkenswerten Bekehrungen hineingestopft wurde. Er redete mit Kirchensäulen, die so reich und moralisch waren, daß ihre eigenen Pastoren Angst vor ihnen hatten. Und er erfand ein neues Hilfsmittel zum Heil, das bis zum heutigen Tage bei den mehr evangelistischen Meetings in Gebrauch ist; allerdings wird es Adelbert Shoop zugeschrieben.
Adelbert verstand sich auf die meisten Belustigungen, die im Schwange waren. Er trieb Männer und Frauen an, »gegeneinander« zu singen. In dem spannenden Augenblick, da Sharon nach Bekehrten rief, sprang Adelbert zwischen den Bänken entlang, dick, aber behend, rosig und schüchtern lächelnd, klopfte den Leuten auf die Schulter, sang mitten unter ihnen den Chor eines Liedes mit und kehrte oft mit drei oder vier durch das Schwert des Herrn Gefangenen zurück, seine dicken Arme schwingend und jubelnd: »Sie kommen – sie kommen« – dann entstand immer eine wilde Jagd zum Altar.
Adelbert, in seiner mädchenhaften Begeisterung, konnte fast ebensogut wie Sharon oder Elmer verkünden: »Heute abend sollt ihr alle Evangelisten sein, jeder einzelne von euch! Drückt Eurem Nachbarn zur Rechten die Hand und fragt ihn, ob er gerettet ist.«
Er weidete sich an ihrer Verlegenheit.
Er hatte wirklich Talente. Nichtsdestoweniger war es Elmer, nicht Adelbert, der den »Halleluja-Ruf« erfand.
Elmer erinnerte sich seines College-Rufs, besann sich darauf, wie dieser ihn angespornt hatte, dem gegnerischen Stürmer das Knie in den Leib zu stoßen oder den feindlichen Zenter gegen das Knie zu treten, und sagte sich: »Warum sollen wir hier nicht auch Rufe haben?«
Er selbst schrieb den ersten in der Geschichte bekannten.
Halleluja, lobet Gott, hal, hal, hal!
Halleluja, lobet Gott, hal, hal, hal!
Schon fühle ich mich stärker,
Hal, hal, hal,
Zur Errettung der Nation –
Aaaaaaaaaaaa-men!
Das ließ sich hören, wenn Elmer vorsang; wenn er vor allen einhertanzte, seine starken Arme schwenkte und brüllte: »Noch einmal! Zwei Yards noch! Zwei Yards für den Heiland! Vorwärts, Jungens und Mädels, unsere Mannschaft! Wollt ihr sie im Stich lassen? Nicht ums Verrecken! Vorwärts also, ich will sehen, daß das alte Dach von eurem Singen einstürzt! Hal, hal, hal!«
So mancher zaudernde junge Mensch, den die intensive Weiblichkeit von Sharons Beschwörungen ein wenig angewidert hatte, wurde auf diese Weise zur Tribüne gebracht, um mit Elmer einen Händedruck zu tauschen und die Segnungen der Religion kennenzulernen.
5
Die Evangeliumsmannschaft konnte ihre Bekehrten nie als menschliche Wesen, etwa als Kellner, Maniküremädchen oder Eisenbahner, sehen, aber sie hatte an ihnen dasselbe berufliche Interesse, wie Chirurgen an Patienten, Kritiker an Autoren, Fischer an Forellen.
In Terre Haute wurden sie von einem Alten geplagt, der sich jeden lieben Abend während der Meetings bekehren ließ. Vielleicht war er verrückt, vielleicht war er immer völlig betrunken, aber Abend für Abend kam er, sah verrotzt und völlig unbekehrt aus; jeden Abend erwachte er während der Predigt zu höheren Bedürfnissen; und wenn der Ruf nach Bekehrten erklang, sprang er auf, brüllte: »Hallelujah, ich hab's!« und galoppierte vorwärts, wirkliche und wertvolle Heilsuchende aus dem Gang verdrängend. Die Mannschaft wartete auf ihn, wie man im Lager auf die Moskitos wartet.
In Scranton hatten sie außergewöhnlich aufreizende Fälle. Schon vor ihrer Ankunft hatten einige andere Evangelisten Scranton gerettet; es war fast ganz unempfindlich geworden. Zehn Nächte schwitzten sie über dem Auditorium, ohne daß auch nur ein einziger Sünder nach vorn gekommen wäre; Elmer mußte sich aufmachen und ein halbes Dutzend überzeugender Bekehrter mieten.
Er fand sie in einer Mission nahe am Fluß und setzte ihnen auseinander: wenn sie den Nachlässigen ein gutes Beispiel gäben, würden sie das Werk Gottes tun, und wenn das Beispiel gut genug ausfalle, wolle er jedem von ihnen fünf Dollars bezahlen. Der Missionar selbst kam während dieser Besprechung herein und machte das Angebot, sich für zehn bekehren zu lassen, aber er war so gut bekannt, daß Elmer ihm die zehn Dollars geben mußte, um ihn zum Wegbleiben zu bewegen.
Seine Rotte von Bekehrten war sehr imponierend, aber nachher war kein Mitglied der Evangelistentruppe sicher. Tag und Nacht belagerten die professionellen Christen das Zelt. Sie wollten wieder gerettet werden. Als sie zurückgewiesen wurden, erboten sie sich, neue Bekehrte zu fünf Dollars für die Person zu liefern – drei Dollars für die Person – fünfzig Cents und eine anständige Mahlzeit. Doch mittlerweile erschienen genug echte, freiwillige Enthusiasten, und obgleich diese sehr eifrig waren, fanden sie nicht Geschmack daran, in Gesellschaft übelriechender Landstreicher gerettet zu werden. Als die sechs Strohmänner von Elmer und Art Nichols mit Brachialgewalt hinausgeworfen waren, begannen sie zu den Meetings zu kommen und zu pfeifen, so daß man ihnen für den Rest der Serie allabendlich einen Dollar bezahlen mußte, um sie fernzuhalten.
Nein, Elmer konnte die Bekehrten nicht als Menschen sehen. Manchmal, wenn er unten im Publikum war und den bezwingenden Helden spielte, den Judson Roberts einst ihm gegenüber gespielt hatte, blickte er zur Tribüne hinauf, wo eine Reihe von Männern in der Bekehrung kniete, die Arme auf Stühle gelegt, die großen Sohlen der Menge zugewandt, und dann hätte er am liebsten aufgelacht und irgend etwas angestellt. Aber fünf Minuten später war er wieder dort oben, kniete neben einem Nähmaschinenagenten, der Katzenjammer hatte, legte die Arme um die Schulter seines Klienten und flehte in den Tönen einer Mutterkuh: »Können Sie sich nicht Christo ergeben, Bruder? Wollen Sie nicht alle die schrecklichen Gewohnheiten aufgeben, die Sie ruinieren – am Erfolg verhindern? Hören Sie! Gott wird Ihnen zum Erfolg helfen! Und wenn Sie einsam sind, alter Junge, denken Sie daran, daß er da ist und darauf wartet, mit Ihnen zu reden!«
6
Im allgemeinen brachten sie es gegen Ende der Meetings zu erfreulichen Stimmungen. Oft knieten junge Frauen da, mit ausdruckslosen Augen, die Lippen in Ekstase weit geöffnet. Manchmal, wenn Sharon in ganz besonderem Feuer war, erzielte sie tatsächlich die Phänomene der großen Erweckungsversammlungen von 1800. Die Leute zuckten und bekamen die heilige Fallsucht, alte Leute sprachen in Pfingsterleuchtung in unbekannten – völlig unbekannten – Zungen; Frauen streckten sich besinnungslos aus, mit heraushängenden Zungen; und einmal ereignete sich, was Kenner für das höchste Beispiel religiöser Begeisterung halten. Vier Männer und zwei Frauen krochen auf allen vieren um eine Säule und bellten wie Hunde, sie »bellten den Teufel aus dem Baum heraus«.
Sharon