Gesammelte Werke. Sinclair LewisЧитать онлайн книгу.
lauernd und tadelsüchtig auf die Welt gekommen.
Als sie das Gespräch zwischen Cy Bogart und Earl Haydock belauschte, mußte sie wieder über diese senile und grausame Jugend weinen.
An diesem Vormittag in den letzten Januartagen, zwei oder drei Wochen nach Vidas Enthüllungen, war Carola in den Garageschuppen gegangen, um einen Hammer zu suchen. Der Schnee erstickte den Schall ihrer Schritte. Sie hörte Stimmen in dem Speicher über ihr:
»Junge, sind die Zigaretten blendend! Weißt du noch, wie wir noch Jungens waren und immer Maisfasern und Grassamen geraucht haben?«
»Ja. Herrgott!«
Spucken. Schweigen.
»Hör' mal, Earl, Ma sagt, wenn man Tabak kaut, kriegt man die Schwindsucht.«
»Ach, Dreck, deine alte Dame ist verrückt.«
»Ja, das stimmt schon.« Pause. »Aber sie sagt, sie kennt einen, der sie gekriegt hat.«
»Ach, Blödsinn, Doktor Kennicott hat doch auch immer Tabak gekaut, bevor er das Stadtmädel da geheiratet hat. Der hat gespuckt – Mensch! Das war 'n Schütze! Der hat 'nen Baum auf zehn Fuß Entfernung getroffen.«
Das war eine Neuigkeit für das Stadtmädchen.
»Sag' mal, wie ist sie denn?« fragte Earl.
»He? Wer ist wie?«
»Du weißt schon, wen ich mein'. Mach' keine blöden Witze.«
Eine Balgerei, dumpfes Klappern loser Bretter, Schweigen, dann erzählte Cy verdrossen:
»Frau Kennicott? Oh, die ist tadellos, glaub' ich.« Eine Erleichterung für Carola unten. »Mal hat sie mir ein Mordsstück Kuchen gegeben. Aber Ma sagt, sie ist protzig wie der Deibel. Ma redet immer von ihr. Ma sagt, wenn Frau Kennicott so viel an den Doktor denken würde wie an ihre Kleider, würde der Doktor nicht so miserabel aussehen.«
Spucken. Schweigen.
»Ja. Juanita redet auch immer von ihr«, sagte Earl. »Sie sagt, Frau Kennicott glaubt, sie weiß alles. Juanita sagt, sie muß immer lachen, daß sie beinah platzt, wenn sie Frau Kennicott über die Straße stolzieren sieht, mit dieser dämlichen Art, die sie hat: ›Sieh mich mal an, ich bin was Feines!‹ Aber weißt du, ich geb' nicht viel drauf, was Juanita sagt. Sie ist ein ganz gemeines Luder.«
»Ma hat irgendwem erzählt, sie hat gehört, daß Frau Kennicott behauptet, sie hat vierzig Dollar in der Woche verdient, wie sie da irgendeinen Posten in der Stadt gehabt hat, und Ma sagt, sie weiß ganz genau, daß sie nie mehr als achtzehn in der Woche verdient hat – Ma sagt, wenn sie mal 'ne Zeit lang hier gelebt hat, wird sie nicht mehr rumlaufen und sich lächerlich machen, mit dem geschwollenen Zeugs, das sie den Leuten an den Kopf wirft, die viel mehr wissen als sie selbst. Alle lachen sich die Hucke voll über sie.«
»Sag' mal, hast du schon mal gesehen, wie Frau Kennicott im Haus rumtrödelt? Gestern abend, wie ich da rübergekommen bin, da hat sie vergessen, den Vorhang runterzulassen. Und ich hab' ihr zehn Minuten zugeschaut. Mensch, da hätt'st du lachen können. Sie war ganz allein, und's muß so fünf Minuten gedauert haben, bis sie damit fertig war, ein Bild gradezurücken.«
»Aber weißt du, Earl, sie sieht doch verdammt hübsch aus, trotzdem, und, heiliger Strohsack! muß die sich Fetzen für die Hochzeit gekauft haben! Ist dir schon mal aufgefallen, was für ausgeschnittene Kleider und was für dünne Shimmyhemden sie immer anhat? Die hab' ich mir mal gut ansehen können, wie sie mit der Wäsche auf der Leine waren. Und Beine hat die, was?«
Dann floh Carola.
In ihrer Unschuld hatte sie nicht gewußt, daß die ganze Stadt sogar ihre Kleider und ihren Körper besprechen könne. Sie hatte ein Gefühl, als schleifte man sie nackt die Hauptstraße entlang.
Sowie es zu dämmern begann, zog sie die Rouleaux herunter, genau bis zum Fensterbrett, aber dahinter glaubte sie feuchte höhnische Blicke zu spüren.
3
Sie dachte, suchte es zu vergessen, dachte um so lebhafter daran, daß ihr Mann den alten Landesgewohnheiten gefolgt sei und Tabak gekaut habe. Ein hübscheres Laster wäre ihr lieber gewesen – Spielen oder eine Geliebte. Dafür hätte sie Verständnis und auch Verzeihung aufgebracht. Sie konnte sich keines bezaubernd verruchten Romanhelden erinnern, der Tabak gekaut hätte. Sie sagte sich, das beweise, daß er ein Mann des kühnen freien Westens sei. Sie versuchte ihn als Filmhelden mit behaarter Brust zu sehen. Sie wälzte sich auf dem Ruhebett, kämpfte mit sich und verlor die Schlacht. Das Spucken machte ihn nicht zu einem der Präriereiter, die durch dick und dünn galoppierten; es brachte ihn nur in engere Gemeinschaft mit Gopher Prairie, mit dem Schneider Nat Hicks und dem Mixer Bert Tybee.
»Aber für mich hat er's aufgegeben. Ach, was macht das schon aus! Wir haben alle irgendeine schmutzige Gewohnheit. Ich komme mir so überlegen vor, aber ich muß auch essen und verdauen, muß mir auch meine schmierigen Pfoten waschen und mich kratzen. Ich bin keine kühle, glatte Säulengottheit. So was gibt's überhaupt nicht! Er hat's für mich aufgegeben. Er hält zu mir, er glaubt, daß alle mich lieben. Er ist der Fels der Jahrhunderte – in einem Sturm von Gemeinheit, der mich verrückt macht … es wird mich verrückt machen.«
Den ganzen Abend sang sie Kennicott schottische Balladen vor, und als sie bemerkte, daß er an einer unangezündeten Zigarre kaute, lächelte sie mütterlich über ihr Geheimnis.
Sie konnte es nicht vermeiden, sich zu fragen (in genau den gleichen Worten und dem gleichen Sinn, den Millionen Frauen, armselige Milchmädchen und unheilstiftende Königinnen, vor ihr gebraucht hatten, dessen sich Millionen Frauen nach ihr bedienen sollten): »War es am Ende doch ein fürchterlicher Irrtum, daß ich ihn geheiratet habe?« Sie unterdrückte den Zweifel – ohne sich ihre Frage zu beantworten.
4
Kennicott war mit ihr an den Lac-Qui-Meurt, in den Urwald gefahren. Dort war der Eingang in eine Indianerreservation der Chippewas, eine Ansiedlung im Sand unter norwegischen Föhren am Ufer eines riesigen, in seiner Schneedecke schimmernden Sees. Sie lernte seine Mutter kennen, die sie bei der Hochzeit nur flüchtig gesehen hatte. Frau Kennicott hatte eine stille, zarte Feinheit, die ihrer vielgescheuerten Hütte mit den abgenützten Kissen auf schwerfälligen Schaukelstühlen eine gewisse Würde verlieh. Sie hatte nie die Wunderkraft des Kindes zum Verwundern verloren. Sie erkundigte sich nach Büchern und nach den Städten. Sie murmelte:
»Will ist ein lieber, fleißiger Junge, aber er neigt dazu, zu ernst zu sein, und du hast ihm beigebracht, wie man spielt. Gestern abend hab' ich gehört, wie ihr beide über den alten indianischen Korbverkäufer gelacht habt; ich habe im Bett gelegen und mich an euerem Glück gefreut.«
In der Sicherheit dieses ruhigen Familienlebens vergaß Carola ihre Jagd nach Sorgen. Sie gehörte zu ihnen; sie kämpfte nicht allein. Wenn sie Frau Kennicott in der Küche umhereilen sah, konnte sie sich Kennicotts Wesen klarer machen. Er war sachlich, ja, und unheilbar erwachsen. Er spielte nicht wirklich; er ließ Carola mit ihm spielen. Aber er hatte das Talent seiner Mutter zum Vertrauen, ihren Widerwillen gegen zudringliche Neugier, ihre nie wankende Lauterkeit.
Die zwei Tage am Lac-Qui-Meurt riefen Carolas Selbstvertrauen wach, und auf der Fahrt nach Gopher Prairie genoß sie eine zitternde Ruhe, ähnlich jenen goldenen betäubten Sekunden, in denen ein kranker Mensch, weil er für einen Augenblick keinen Schmerz empfindet, sich schwelgerisch am Leben freut.
Ein strahlend kalter Wintertag, der Wind pfiff, schwarze Wolken mit Silberrändern jagten über den Himmel, alles war während der kurzen Helligkeit in aufgeregter Bewegung. Sie kämpften gegen den Wind an, arbeiteten sich durch tiefen Schnee. Kennicott war guter Laune. Er rief Loren Wheeler zu: »Habt ihr euch anständig benommen, während ich weg war?« Der Redakteur brüllte zurück: »Weiß Gott, Sie sind so lang' weg gewesen, daß Ihre Patienten alle gesund geworden sind!« und machte sich mit wichtiger Miene Notizen über die Reise für den »Unverzagten«. Jackson Elder schrie: »Na, Herrschaften! Was gibt's