Gesammelte Werke. Sinclair LewisЧитать онлайн книгу.
schöne Stadt, die existierten in ihrer Phantasie. Sie waren bereits geschaffen. Die Aufgabe war getan. Wonach sie eigentlich gesucht hatte, das war jemand, der sie mit ihr bewohnen könnte. Vida wollte nicht, Kennicott konnte nicht.
Jemand, der mit ihr dort zu Hause sein könnte.
Plötzlich dachte sie an Guy Pollock.
Sie ließ den Gedanken wieder fallen. Er war zu vorsichtig. Sie brauchte einen Geist, der so jung und unvernünftig war wie der ihre. Und den würde sie nie finden. Nie würde die Jugend singend kommen. Sie war geschlagen.
Doch noch an diesem Abend hatte sie eine Idee, die das Wiederaufbauproblem Gopher Prairies löste.
Zehn Minuten später zog sie an dem altmodischen Klingelzug Luke Dawsons. Frau Dawson öffnete die Tür und blickte argwöhnisch durch einen Spalt hinaus. Carola küßte sie auf die Wange und stürmte in das düstere Wohnzimmer.
»Na, das ist mal ein Anblick für müde Augen«, lachte Herr Dawson, ließ seine Zeitung fallen und schob sich die Brille auf die Stirn.
»Sie sehen so aufgeregt aus«, seufzte Frau Dawson.
»Das bin ich auch! Herr Dawson, sind Sie nicht Millionär?«
Er nickte und sagte behaglich: »Ja, ich glaub', wenn ich alle meine Sicherheiten und Hypotheken und meine Eisenbeteiligung in der Mesaba und meine Holzaktien und gerodeten Ländereien zu Geld mach', so würde mir nicht viel an zwei Millionen Dollar fehlen, und jeden Cent davon hab' ich nur, weil ich hart gearbeitet hab' und so gescheit war, nicht jeden –«
»Ich glaube, das meiste davon muß ich haben –«
Die Dawsons warfen einander Blicke voll Anerkennung über diesen Spaß zu, und er kicherte: »Sie sind ja schlimmer als Reverend Benlick! Der will fast nie mehr als zehn Dollar von mir haben – auf einmal!«
»Ich mache keinen Witz! Ich mein' es ganz ernst! Ihre Kinder in den Städten sind erwachsen und wohlhabend. Sie brauchen, wenn Sie sterben, nicht einen Namen zu hinterlassen, den niemand kennt. Warum sollen Sie nicht etwas Großes, Originelles machen? Warum nicht die ganze Stadt neu aufbauen? Einen großen Architekten herkommen und eine Stadt entwerfen lassen, die in die Prärie paßt. Vielleicht könnte er eine ganz neue Architekturform finden. Dann alle diese baufälligen Buden einreißen –«
Herr Dawson war zu dem Schluß gekommen, daß sie es wirklich ernst meine. Er jammerte: »Aber das würde doch mindestens drei bis vier Millionen Dollar kosten!«
»Aber Sie allein, ein einzelner, haben zwei von diesen Millionen!«
»Ich? Mein ganzes gutes, schwer verdientes Geld auf Häuser ausgeben für einen Haufen untüchtiger Bettler, die nie den Verstand gehabt haben, ihr Geld zu sparen? Ich bin nie schlecht gewesen. Mama konnte immer ein Dienstmädel für die Arbeit haben – wenn sie eins finden konnte. Aber wir haben uns beide die Knochen aus dem Leib gerackert und – das ganze für diese Mistkerle ausgeben –?«
»Bitte! Werden Sie nicht böse! Ich meine nur – ich meine – nicht alles ausgeben, natürlich, aber wenn Sie als erster die Liste zeichnen und dann die anderen kommen würden, und Sie über eine hübschere Stadt sprechen hören –«
»Aber, aber, Kind, was Sie für Einfälle haben! Außerdem, was ist denn mit der Stadt? Ich find' sie gut. Ich hab' mit Leuten gesprochen, die in der ganzen Welt herumgereist sind und die haben mir immer wieder gesagt, daß Gopher Prairie der hübscheste Ort im Mittelwesten ist. Gut genug für alle, ganz bestimmt gut genug für Mama und mich. Außerdem! Mama und ich denken dran, nach Pasadena zu übersiedeln und dort ein Häuschen zu kaufen.«
7
Sie hatte Miles Bjornstam auf der Straße getroffen. Im Augenblick der Begrüßung schien ihr dieser Arbeiter, mit seinem Räuberschnurrbart und dem schmutzigen Monteuranzug, der gläubigen Jugend, die sie suchte, an deren Seite sie kämpfen wollte, näher zu sein als alle anderen, und sie erzählte ihm, wie eine lustige Anekdote, ein wenig von ihrer Geschichte.
Er knurrte: »Ich hätt' nie gedacht, daß ich mal einer Meinung mit dem alten Dawson sein könnte, mit dem filzigen alten Landdieb – und bestechen kann er auch ganz schön. Aber Sie haben's falsch angepackt. Sie gehören nicht zu den Leuten. Noch nicht. Sie wollen was für die Stadt tun. Ich nicht! Ich will, daß die Stadt selber was für sich tut. Wir wollen nicht das Geld vom alten Dawson – nicht, wenn's ein Geschenk ist und er die Kontrolle drüber behält. Wir wollen's ihm wegnehmen, weil es uns gehört. Sie müssen sehen, daß Sie fester werden und bißchen widerborstiger. Kommen Sie zu uns lustigen Vagabunden, und mal – wenn wir uns erzogen haben und nicht mehr Vagabunden sind – werden wir die Karre nehmen und rausziehen.«
Er war nicht mehr ihr Freund, er hatte sich in einen zynischen Menschen in blauem Arbeiteranzug verwandelt. Sie konnte sich nicht für die Autokratie »lustiger Vagabunden« begeistern.
Als sie am Rande der Stadt spazierenging, vergaß sie ihn.
Sie hatte das Rathausprojekt fallen lassen und sich einem ganz neuen und sehr begeisternden Gedanken zugewandt; sie überlegte, wie wenig für diese unromantischen Armen getan wurde.
8
Der Frühling in den Ebenen ist keine schüchterne Jungfrau, er ist üppig und hat nicht lange Dauer. Die Straßen, die vor wenigen Tagen schlammig gewesen waren, lagen jetzt unter feinem Staub, und die Pfützen an ihrem Rande hatten sich in längliche Stückchen schwarzer glatter Erde verwandelt, die aussahen wie gesprungenes Lackleder.
Carola keuchte, während sie zur Sitzung des Thanatopsis-Programmausschusses schlich, der über das Thema für den nächsten Herbst und Winter Beschluß fassen sollte.
Die Frau Vorsitzende (Ella Stowbody in einer austernfarbenen Bluse) fragte, ob es neue Fragen gebe.
Carola erhob sich. Sie schlug vor, der Thanatopsis solle den Stadtarmen helfen. Sie war überaus korrekt und modern. Sie wolle, sagte sie, keine Liebeswerke für die Armen, sondern Möglichkeiten zur Selbsthilfe, ein Stellenvermittlungsbüro, Anleitung zur Kinderpflege und zu besserem Kochen, vielleicht einen Gemeindefond für Heimstättenbau. »Was halten Sie von meinen Plänen, Frau Warren?« schloß sie.
Wohl überlegt, wie jemand, der durch Heirat mit der Kirche verwandt ist, gab Frau Warren ihren Urteilsspruch ab:
»Ich bin überzeugt, daß wir alle von Herzen mit Frau Kennicott in dem Gefühl übereinstimmen, daß es, wo immer man wirklicher Armut begegnet, nicht nur noblesse oblige, sondern auch eine Freude ist, den mit Glücksgütern weniger Gesegneten gegenüber unsere Pflicht zu erfüllen. Aber ich muß sagen, es scheint mir, wir sollten nicht das Wesentliche daran aus dem Auge verlieren, indem wir es nicht für Liebeswerke halten. Ja, das ist doch die Hauptzierde des wahren Christen und der Kirche! Die Bibel hat das ausdrücklich zu unserer Führung ausgesprochen. ›Glaube, Hoffnung und Liebe‹ sagt sie, und: ›Arme habt ihr allezeit bei euch‹, was beweist, daß niemals etwas an den sogenannten wissenschaftlichen Plänen zur Zerstörung der Liebeswerke sein kann, niemals! Und ist es nicht auch besser so? Es wäre mir fürchterlich, mir eine Welt vorzustellen, in der wir nicht die Freuden des Gebens genießen könnten. Übrigens, wenn diese dummen Leute wissen, daß es Liebeswerke sind, und nicht etwas, worauf sie ein Recht haben, sind sie viel dankbarer.«
»Übrigens«, begehrte Fräulein Ella Stowbody auf, »hat man Sie zum Narren gehalten. Es gibt gar keine wirklichen Armen hier. Nehmen Sie zum Beispiel die Frau Steinhof, von der Sie sprechen: ich laß immer bei ihr waschen, wenn's unserem Dienstmädchen zuviel ist. Im letzten Jahr hab' ich ihr mindestens zehn Dollar zu verdienen gegeben! Ich bin überzeugt, Papa würde sich nie mit einem städtischen Heimstättenfond einverstanden erklären. Papa sagt, diese Leute sind Schwindler. Besonders alle diese Pächter, die immer erzählen, daß es ihnen so schwer wird, Saatgut und Maschinen zu bekommen. Papa sagt, sie wollen ganz einfach ihre Schulden nicht zahlen. Papa sagt, es ist ihm freilich ekelhaft, Hypotheken für verfallen zu erklären, aber es ist die einzige Möglichkeit, um den Leuten Respekt vor dem Gesetz beizubringen.«