Gesammelte Werke. Sinclair LewisЧитать онлайн книгу.
daß wir Sie in dieser Enge empfangen müssen. Und wir haben auch gar kein Wasser, außer dem alten Eisenausguß draußen im Vorzimmer, aber, wie ich immer zu Champ sage, Bettler dürfen nicht wählerisch sein. Übrigens das Ziegelhaus war zu groß für mich zum Aufräumen, und es war auch ein bißchen weit draußen, und es ist nett, hier unter den Leuten zu wohnen. Ja, wir sind gern hier. Aber – Einmal werden wir vielleicht wieder ein eigenes Haus haben. Wir sparen – Ach, du lieber Gott, wenn wir wieder unser eigenes Haus haben könnten! Aber die Zimmer hier sind wirklich hübsch, nicht wahr?«
Wie alte Leute es in der ganzen Welt tun, hatten sie soviel wie möglich von ihren altgewohnten Möbeln in diese engen Räume gepfercht. Carola spürte nichts von dem Überlegenheitsgefühl, das sie Frau Lyman Cass' protzenhaftem Salon gegenüber empfand. Hier fühlte sie sich zu Hause.
Sie verschwieg nicht, daß sie entzückt war. Es tat den Perrys wohl, unter den »jungen Leuten« einen Menschen zu finden, der sie ernst nahm, und Carola brachte die beiden Alten leicht dazu, ihr die Grundsätze zu verraten, die Gopher Prairie zur Wiedergeburt verhelfen – es wieder zu einem angenehmen Aufenthaltsort machen sollten.
Das war die ganze Philosophie der beiden Leutchen … im Zeitalter der Flugzeuge und des Syndikalismus:
Die baptistische Kirche (und, in etwas geringerem Grade, die methodistische, die kongregationalistische und Presbyterianerkirche) ist der vollkommene, göttlich eingesetzte Maßstab für Musik, Redekunst, Philanthropie und Ethik. »Wir brauchen nicht diese ganze neumodische Wissenschaft und diesen schrecklichen höheren Kritizismus, der unsere jungen Männer in den Colleges verdirbt. Was wir brauchen, das ist die Rückkehr zum echten Wort Gottes und zu einem guten gesunden Glauben an die Hölle, wie er uns immer gepredigt worden ist.«
Die republikanische Partei, die Große Alte Partei Blaines und McKinleys, ist das Werkzeug Gottes und der Baptistenkirche für zeitliche Angelegenheiten.
Alle Sozialisten gehören an den Galgen.
»Harald Bell Wright ist ein reizender Schriftsteller, und er gibt so gute moralische Lehren in seinen Romanen, und er soll nicht viel weniger als eine Million Dollar damit verdient haben.«
Alle, die im Jahr mehr als zehntausend oder weniger als achthundert Dollar verdienen, sind schlechte Menschen.
Die Europäer sind noch schlechter.
Es schadet gar nichts, an einem warmen Tag ein Glas Bier zu trinken, aber jeder, der Wein anrührt, ist auf dem geraden Weg zur Hölle.
Die Jungfrauen sind nicht mehr so jungfräulich, wie sie früher waren.
Kein Mensch braucht Gefrorenes aus der Drogerie; Obstkuchen ist gut genug für alle.
Die Farmer verlangen zuviel für ihren Weizen.
Die Besitzer der Speichergesellschaft erwarten zuviel für die Gehälter, die sie bezahlen.
Es würde gar keine Sorgen und keine Unzufriedenheit mehr auf der Welt geben, wenn alle so schwer arbeiteten wie Pa beim Roden unseres ersten Farmlandes.
4
Carolas Heldenverehrung wurde zu einem höflichen Nicken, das höfliche Nicken wurde zum Wunsch nach Flucht, und als sie nach Hause ging, hatte sie Kopfschmerzen.
Am nächsten Tag sah sie Miles Bjornstam auf der Straße.
»Ich bin g'rad aus Monatana zurückgekommen. Es war ein großartiger Sommer. Ich hab' mir die Lungen zum Platzen voll mit Rocky-Mountain-Luft gefüllt. Jetzt kann ich wieder die großen Herren von Gopher Prairie ärgern.« Sie lächelte ihm zu, und die Perrys verblaßten, die Pioniere verblaßten, bis sie bloß noch Daguerreotypien in einer schwarzen Nußbaumkredenz waren.
Zwölftes Kapitel
1
An einem Novemberabend, als Kennicott unterwegs war, wollte sie, mehr von Höflichkeit als von einem Wunsch getrieben, die Perrys wieder besuchen. Sie waren nicht zu Hause.
Wie ein Kind, das niemand zum Spielen hat, streifte sie durch den dunklen Korridor. Unter einer Bürotür sah sie einen Lichtstreifen. Sie klopfte. Als jemand öffnete, murmelte sie: »Wissen Sie vielleicht, wo die Perrys sind?« Sie merkte, daß es Guy Pollock war.
»Es tut mir sehr leid, Frau Kennicott, aber ich weiß es nicht. Wollen Sie nicht hereinkommen und bei mir warten?«
»A–aber –« stammelte sie, während sie daran dachte, daß es in Gopher Prairie nicht anständig sei, einen Herrn zu besuchen; während sie beschloß, nein, sie werde bestimmt nicht eintreten; und während sie hineinging, sagte sie:
»Ich wußte gar nicht, daß Sie Ihr Büro hier haben.«
»Ja, Büro, Stadthotel und Landschlößchen in der Picardie. Aber das Schloß und das Stadthotel können Sie jetzt nicht sehen. Die sind beide hinter der Tür dort. Sie bestehen aus einem Feldbett, einem Waschtisch, meinem zweiten Anzug und der blauen Krawatte, die Ihnen so gut gefallen hat.«
»Sie wissen noch, daß ich das gesagt habe?«
»Natürlich. Ich werd's auch immer wissen. Bitte, versuchen Sie's mit diesem Stuhl.«
Sie sah sich in dem unfreundlichen Büro um – ein armseliger Ofen, Regale mit Gesetzbüchern, ein Schreibtischsessel voller Zeitungen, die vom vielen Sitzen ganz zerfetzt und grau geworden waren. Nur zwei Dinge waren da, die von Guy Pollock sprachen. Auf dem grünen Filz des Schreibtisches stand zwischen Formularen und einem schmutzigen Tintenfaß eine Cloisonnévase. Auf einem Hängeregal stand eine Reihe Bücher, die für Gopher Prairie ungewöhnlich waren: Lyrik in Liebhaberausgaben, schwarz und rot gebundene deutsche Romane, ein Charles Lamb in gepreßtem Saffian.
Guy setzte sich nicht. Er lief im Büro umher wie ein Windspiel auf der Spur; ein Windspiel mit vorne auf der schmalen Nase sitzenden Augengläsern und einem seidigen, kleinen braunen Schnurrbart. Er hatte eine wollene Golfjacke an, die an den Ärmeln abgewetzt war. Es fiel ihr auf, daß er sich deshalb nicht entschuldigte, wie Kennicott es getan haben würde.
Er machte Konversation: »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie mit den Perrys so intim befreundet sind. Champ ist das Salz der Erde, aber ich weiß nicht, ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich mit Ihnen über symbolische Tänze oder Verbesserungen des Dieselmotors unterhält.«
»Nein. Er ist eine gute Haut, Gott segne ihn, aber er gehört ins Nationalmuseum neben General Grants Degen, und ich bin – ach, ich glaube, ich suche ein Evangelium, das Gopher Prairie bekehren kann.«
»Wirklich? Zu was bekehren?«
»Zu irgend etwas Ausgesprochenem. Ernsthaftigkeit oder Leichtfertigkeit, oder beides. Es wäre mir ganz egal, ob es ein Laboratorium wäre oder ein Fasching. Aber es ist nichts weiter als sicher. Sagen Sie mir, Herr Pollock, was stimmt mit Gopher Prairie nicht?«
»Stimmt mit Gopher Prairie etwas nicht? Oder stimmt vielleicht mit Ihnen und mit mir etwas nicht? (Darf ich um die Ehre bitten, feststellen zu dürfen, daß mit uns beiden etwas nicht stimmt?)«
»(Ja, danke.) Nein, ich glaube, es liegt an der Stadt.«
»Weil den Leuten das Eislaufen mehr Spaß macht als Biologie?«
»Aber ich interessiere mich nicht nur mehr für Biologie, als die Lustige Siebzehn, sondern auch fürs Eislaufen! Ich würde ebenso gern mit den Leuten eislaufen oder rodeln oder Schneeball werfen, wie ich mich mit Ihnen unterhalte.«
(»O nein!«)
»(Ja!) Aber sie wollen zu Hause bleiben und sticken.«
»Vielleicht. Ich will die Stadt nicht verteidigen. Es ist bloß – Ich bin ein überzeugter Zweifler an mir selbst. (Wahrscheinlich