Gesammelte Werke. Sinclair LewisЧитать онлайн книгу.
O Ray, bitte, halten Sie mich nicht. Lassen Sie mich gehen, ich werde meinen Vertrag hier eben nicht erneuern – und – treiben – weit weg –«
Seine Hand blieb fest auf ihrer Schulter liegen. Sie ließ den Kopf sinken, rieb ihre Wange an seinem Handrücken.
Im Juni heirateten sie.
4
Sie nahmen das Haus, in dem Jenson gewohnt hatte. »Es ist klein,« sagte Vida, »aber es hat einen entzückenden Gemüsegarten, und es freut mich so, daß ich jetzt mit einemmal Zeit habe, der Natur näherzukommen.«
Obwohl sie technisch Vida Wutherspoon wurde, und obwohl sie sich ganz gewiß nicht einbildete, sie müßte aus Gründen der Unabhängigkeit ihren Namen behalten, kannte man sie weiter als Vida Sherwin.
Sie war von der Schule zurückgetreten, behielt aber eine Klasse, in der sie Englisch unterrichtete. Sie war rührig und geschäftig bei jeder Komiteesitzung des Thanatopsis; sie sprang immer in den Warteraum, um Frau Nodelquist den Fußboden fegen zu lassen; sie wurde zur Nachfolgerin Carolas im Bibliotheksausschuß ernannt; sie unterrichtete in der höchsten Mädchenklasse der anglikanischen Sonntagsschule. Man sah, daß sie mit jedem Tag rundlicher wurde, und obgleich sie ebenso eifrig plauderte wie früher, redete sie weniger von ihrer Bewunderung für die Ehefreuden, sprach weniger sentimental von Babies, forderte schärfer, daß die ganze Stadt ihre Reformpläne durchführe – die Anlegung eines Parks, die gesetzliche Säuberung der Hinterhöfe.
Sie nagelte Harry Haydock hinter seinem Pult im Bon Ton fest; sie unterbrach ihn in seinen Scherzen; sie sagte ihm, Ray sei es gewesen, der die Schuhabteilung und die Herrenkonfektionsabteilung ins Leben gerufen habe; sie forderte, daß er zum Teilhaber gemacht werde. Bevor Harry antworten konnte, drohte sie damit, daß Ray und sie ein Konkurrenzgeschäft gründen würden. »Ich werde selbst hinter dem Ladentisch stehen, und gewisse Interessenten sind bereit, das Geld dafür herzugeben.«
Sie hatte keine Ahnung, wer diese Interessenten waren.
Ray wurde mit einem Sechstel beteiligt.
Das einzige Überbleibsel von Vidas Selbstidentifizierung mit Carola war eine gewisse Eifersucht, wenn sie Kennicott und Ray zusammen sah und daran dachte, manche Leute könnten vielleicht der Meinung sein, daß Kennicott sein Vorgesetzter sei. Sie war überzeugt, daß Carola das glaubte, und hätte am liebsten geschrien: »Du brauchst nicht so zu glotzen! Ich würde deinen blöden alten Mann gar nicht wollen. Er hat nicht so viel von Rays geistigem Adel!«
Einundzwanzigstes Kapitel
1
Nicht, wie das andere Geschlecht, noch wie Lob auf ihn wirkt, ist das rätselhafteste an einem Menschen, sondern wie er es zuwege bringt, die vierundzwanzig Stunden eines Tages auszufüllen. Das kann der Hafenarbeiter am Kommis, der Londoner am Buschmann nicht begreifen. Das konnte Carola an der verheirateten Vida nicht begreifen. Carola selbst hatte das Kind, ein größeres Haus, für das sie sorgen mußte, sie erledigte alle telephonischen Anrufe für Kennicott, wenn dieser unterwegs war; überdies las sie alles, während Vida sich mit den Zeitungsüberschriften begnügte.
Doch nach den einsamen, in trostlosen Pensionen verbrachten Jahren hungerte es Vida nach der Hausarbeit, selbst nach ihren langweiligsten Einzelheiten. Sie hatte kein Mädchen und wollte auch keines. Sie kochte, sie buk, fegte, wusch Tischtücher, alles mit dem Triumphgefühl eines Chemikers in einem neuen Laboratorium. Für sie war der Herd wahrhaftig der Altar.
Carola selbst verbrachte die vierundzwanzig Stunden ihres Tages folgendermaßen: sie stand auf, zog das Kind an, frühstückte, sprach mit Oscarina über die Einkäufe des Tages, setzte das Kind zum Spielen auf die Veranda, ging zum Fleischer, um zwischen Steak und Schweinskoteletten zu wählen, badete das Kind, nagelte ein Regal an die Wand, aß zu Mittag, brachte das Kind für den Nachmittagsschlaf ins Bett, bezahlte den Eismann, las eine Stunde, ging mit dem Kind spazieren, besuchte Vida, aß zu Abend, legte das Kind schlafen, stopfte Socken, lauschte Kennicotts gähnenden Bemerkungen darüber, wie dumm es von Dr. McGanum sei, mit seinem billigen X-Strahlenapparat bei einem Hautkrebs etwas anfangen zu wollen, richtete sich ein Kleid, hörte verschlafen, wie Kennicott die Heizung aufschürte, versuchte eine Seite Thorstein Veblen zu lesen – und der Tag war vorbei.
Wenn Hugh nicht gerade besonders ungezogen war, wenn er nicht gerade weinte, lachte oder in aufregender Altklugheit sagte »Ich hab' mein Stühlchen gern«, litt sie unter Einsamkeit. Sie fühlte sich nicht mehr über dieses Unglück erhaben. Sie hätte sich mit Freuden zu Vidas Zufriedenheit mit Gopher Prairie bekehren lassen und den Fußboden aufgewischt.
2
Fraglos, so sagte sich Carola, neigen alle Kleinstädte, in allen Ländern und in allen Zeitaltern, dazu, nicht nur dumm, sondern auch schlecht und böse zu sein und von Neugier geplagt zu werden. In Frankreich oder im Tibet gehören diese Feigheiten ebenso wesentlich zur Isoliertheit wie in Wyoming oder Indiana.
Aber ein Dorf in einem Lande, das gewaltige Anstrengungen macht, ganz normalisiert und rein zu werden, das den Ehrgeiz hat, das victorianische England als größte Mittelmäßigkeit der Welt abzulösen, ein solches Dorf ist nicht mehr bloß provinziell, nicht mehr still und behaglich in seinem laubbeschatteten Unwissen. Es ist eine Kraft, welche die Erde zu beherrschen, Berge und Meer der Farben zu berauben, Dante zur Verkündung der Vorzüge Gopher Prairies auszunützen und die hohen Götter in erstklassige Anzüge von der Stange zu kleiden sucht. Seiner selbst sicher, unterdrückt es andere Zivilisationen, so wie ein Geschäftsreisender in brauner Melone die Weisheit Chinas erobert und Archive, die seit Jahrhunderten die Weisheiten des Confuzius aufbewahren, mit Zigarettenplakaten beklebt.
Eine derartige Gesellschaft funktioniert auf bewundernswerte Weise in der Massenerzeugung billiger Automobile, Eindollar-Uhren und Rasierklingen. Allein, sie gibt sich nicht zufrieden, solange nicht die ganze Welt auch einräumt, daß der Zweck und das fröhliche Ziel des Lebens darin besteht, in schlechten Wagen zu fahren, Reklamezeichnungen für Eindollar-Uhren zu machen und beim abendlichen Plaudern nicht von Liebe und Heldenmut zu sprechen, sondern von den Vorzügen der Rasierklingen.
Und eine derartige Gesellschaft, eine derartige Nation wird von den Gopher Prairies bestimmt. Der größte Fabrikant ist lediglich ein rührigerer Sam Clark, und alle die redegewandten Senatoren und Präsidenten sind Dorfanwälte und Bankiers, die neun Fuß groß geworden sind.
Obgleich ein Gopher Prairie sich für einen Teil der großen Welt hält, sich mit Rom und Wien vergleicht, will es nichts vom wissenschaftlichen Geist, vom internationalen Sinn wissen, der es groß machen würde. Es greift nach Lehren, die greifbar Geld oder gesellschaftliche Vorzüge bringen. Seine Vorstellung vom Ideal einer Gemeinschaft ist nicht die Großzügigkeit, das edle Streben, der schöne adelige Stolz, sondern billige Arbeit für die Küche und rasches Steigen der Bodenpreise. Es spielt auf einem schmierigen Wachstuch in einer Holzhütte Karten und weiß nicht, daß draußen Propheten wandeln und lehren.
Wenn alle Provinzler so freundlich wären wie Champ Perry und Sam Clark, hätte man keinen Grund, zu wünschen, daß die Kleinstadt große Traditionen suche. Die Harry Haydocks, die Dave Dyers, die Jackson Elders, kleine, geschäftige Leute, die sich für Männer von Welt halten, aber immer Männer der Kontrollkasse und der Filmburleske bleiben, in ihrem gemeinsamen Ziel eine furchtbare Macht, diese sind es, welche die Kleinstadt zu einer unfruchtbaren Oligarchie machen.
Universelle Gleichartigkeit – das ist der physische Ausdruck dieser Philosophie dumm-stumpfen Geborgenseins. Neun Zehntel der amerikanischen Kleinstädte sind so gleich, daß es der Gipfel der Langeweile ist, von einer zur anderen zu wandern. Westlich von Pittsburgh und oft auch östlich davon findet man immer den gleichen Holzhof, die gleiche Eisenbahnstation, die gleiche Ford-Garage, die gleiche Molkerei, die gleichen kistenähnlichen Häuser und Zwei-Stock-Geschäfte. Die neuen, selbstbewußteren