Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen FischerЧитать онлайн книгу.
(a. a. O., S. 551 f.), wobei sich aber das Problem ergab, dass bei der Nouvelle Revue Française gerade die Übersetzung eines Romans von Rabindranath Tagore unter ebendiesem Titel erschienen war, und »ohne Fugitive keine Prisonnière« (ebd.). Ende September fragte Gallimard deshalb bei Proust an, ob er denn wirklich den vorgesehenen Titel beibehalten wolle, und Proust antwortete (Briefwechsel Proust–Gallimard, S. 621): »seit der Titel La Fugitive im Verschwinden begriffen ist, ist die Symmetrie [zur Gefangenen] dahin«. In der ersten Maschinenabschrift des Manuskripts zum ursprünglichen (ungeteilten) Sodom III findet sich dann die handschriftlich eingetragene Überschrift: »Albertine disparue / Chapitre I«, und in der zweiten Maschinenabschrift, die den Titel La Fugitive trägt, ähnlich der Vermerk: »Hier beginnt Albertine disparue« (NAF 16748; s. auch Tadié, Recherche IV, S. 1043, zu page 3, der die Handschrift offenbar Marcel Proust zuschreibt).
Nach Prousts Tod nahmen sich Prousts Bruder Robert und der NRF-Redakteur Jacques Rivière der nachgelassenen Manuskripte an und bereiteten sie zur Publikation vor; das Manuskript zur Gefangenen lag Gallimard bereits fertig vor, soweit man bei Prousts Manuskripten von ›fertig‹ reden konnte (»keiner der beiden Teile ist ›fertig‹ im eigentlichen Sinn von ›fertig‹«, Briefwechsel Proust–Gallimard, S. 551), zu den letzten beiden Bänden jedoch existierten nur Prousts sogenannte Reinschriften (»Papyrollen«) und zahllose lose Zettel. Bei der Zusammenstellung der Texte wurden deshalb zahlreiche Irrtümer begangen und auch Auslassungen vorgenommen, weshalb Gallimard, der inzwischen die Nouvelle Revue Française übernommen hatte, 1954 eine dreibändige kritische Neuedition unter der Herausgeberschaft von Pierre Clarac und André Ferré in der Reihe Bibliothèque de la Pléiade unternahm. Infolge des so neugeweckten Interesses und auch nach dem Tod von Prousts Nichte Adrienne »Suzy« Mante-Proust tauchte jedoch eine solche Menge neuen Materials auf, dass abermals eine Überarbeitung vor allem der letzten Bände erforderlich wurde. Diese Aufgabe übernahm Jean-Yves Tadié mit der vierbändigen, umfangreich kommentierten Ausgabe bei Gallimard 1987–89, die unserer Übersetzung im wesentlichen zugrunde liegt.
»Albertine disparue« Zu der Hinterlassenschaft von Suzy Mante-Proust gehörte auch eine stark gekürzte und im übrigen wenig veränderte Fassung des sechsten Bandes, das sog. Mauriac-Typoskript, das 1987 von Nathalie Mauriac-Dyer, einer Enkelin von Suzy Mante-Proust, unter dem Titel Albertine disparue bei Grasset publiziert wurde. Der Stellenwert dieses Textes ist umstritten. Helbling (Albertine, 2001) argumentiert, dass es sich eventuell um eine Fassung für einen Vorabdruck in der Reihe Les Œuvres libres handelt, der an den oben erwähnten Vorabdruck Précaution inutile aus der Gefangenen in dieser Serie anschließen würde und mit dem nicht im aufgefundenen Manuskript vorkommenden Satz »Mademoiselle Albertine est disparue« endet, während in der tradierten Fassung dieser – kaum verzichtbare – Satz nicht am Ende der Gefangenen, sondern am Anfang der Entflohenen steht. Auch die Länge des gekürzten Textes, die derjenigen der beiden anderen Œuvres libres-Vorveröffentlichungen gleichkommt, spricht für diese These. Andere Stimmen, wie etwa Nathalie Mauriac-Dyer, neigen eher zu der Auffassung, dass Proust eine völlige Umstrukturierung des Romanendes geplant habe. Eine für Gaston Gallimard bestimmte Notiz am Rande des Mauriac-Typoskripts weckt zumindest Zweifel an Helblings These. In der Reihe Le Livre de poche hat Mauriac-Dyer die gekürzte Fassung unter dem Titel Albertine disparue an die Prisonnière angeschlossen und diesem Band einen Band mit der tradierten Textfassung unter dem Titel La Fugitive folgen lassen. Eine Übersetzung der gekürzten Fassung des sechsten Bandes findet sich unter dem Titel Die Flucht in Hanno Helblings Sammelband Albertine.
»Er geht ganz in Proust auf, wie nur ein Kind das kann.«
Zur Rezeption
»›Das Lesen.‹ – ›Oh!, das ist aber eine sehr beruhigende Leidenschaft bei einem Ehemann!‹ rief Madame Bontemps und erstickte ein boshaftes Lachen.« (SJM, S. 247.)
Die Literatur zu Proust hat inzwischen den Pegel von 10 000 Titeln überschritten – die meisten davon gewiss zur Suche. Es ist daher kaum noch menschenmöglich, und ganz bestimmt nicht in diesem Rahmen, einen auch nur annähernd vollständigen Überblick über die Diskussion zu geben. Ich beschränke mich hier darauf, die wesentlichsten Gesichtspunkte anzudeuten, die unmittelbar nach Erscheinen der einzelnen Bände in der Tagespresse und Literaturkritik vorgebracht wurden. Die meisten dieser Rezensionen sind heute nur noch unter Mühen erhältlich; dem interessierten Leser steht aber immerhin Hodsons Sammlung (1989) umfangreicher Auszüge in englischer Übersetzung zur Verfügung. Eine erste Zusammenfassung der zeitgenössischen französischen Rezeption Prousts liefert Catalogne bereits 1926, eine naturgemäß umfangreichere Darstellung der französischen Kritik bietet dann Alden 1973. Eine speziell auf den moralischen Aspekt fokussierte Analyse der französischen Reaktionen auf Prousts Werk in den Jahren zwischen 1913 und 1930 liefert Ahlstedt 1985. Einen Überblick über die zentralen Themen der Diskussion liefert die 1971 erschienene Sammlung von Jacques Bersani mit 20 Aufsätzen, die den Zeitraum von 1912 bis 1970 umfasst und so illustre Namen wie Curtius, Butor, Deleuze, Barthes und Genette vereint. Ein ähnliches Konzept verfolgen 1990 Paolo Pinto und Giuseppe Grasso mit ihrer Sammlung Proust e la critica italiana von 36 Aufsätzen zur italienischen Proust-Rezeption, in der Beiträge von u. a. G. Ungaretti, B. Croce, A. Moravia, A. Beretta-Anguissola, G. Macchia und P. Citati zu finden sind. Ein feinmaschigeres Netz wirft 1983 Angelika Corbineau-Hoffmann aus, die unter dem Titel Marcel Proust die Literatur zu Proust thematisch gegliedert in Abrissen darstellt.
Einen vorläufigen Überblick über die Proust-Rezeption auch außerhalb Europas gab 2001 das Institut Marcel Proust International in einem Kongressbericht. Detailliert befasst sich Herbert E. Craig 2002 mit der Proust-Rezeption im spanischsprachigen Amerika; die umfangreiche Bibliographie erfasst zudem über die Fachdiskussion hinaus auch Zeitungsrezensionen und -erwähnungen.
2009 erschien an der Université de Provence eine Dissertation von Hongmei He, die einen Überblick über die Rezeption Prousts in China liefert.
1926 Gérard de Catalogne: Marcel Proust et ses critiques. In: Marcel Proust. Paris: Éditions de la Revue Le Capitole, 1926.
1967 René de Chantal: Marcel Proust. Critique littéraire. Montréal: Presses de l’Université de Montréal, 1967.
1971 Jacques Bersani (Hrsg.): Les critiques de notre temps et Proust. Paris: Garnier, 1971.
1973 Douglas W. Alden: Marcel Proust and his French Critics. Los Angeles: Lymanhouse, 1940. Nachdr. New York: Russell & Russell, 1973.
1983 Angelika Corbineau-Hoffmann: Marcel Proust. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. (Erträge der Forschung.)
1985 Eva Ahlstedt: La Pudeur en crise. Un aspect de l’accueil d’»À la recherche du temps perdu« de Marcel Proust, 1913–1930. Paris: Touzot, 1985.
1989 Leighton Hodson (Hrsg.): Marcel Proust. The Critical Heritage. London / New York: Routledge, 1989.
1990 Paolo Pinto, Giuseppe Grasso (Hrsg.): Proust e la critica italiana. Torriana: Orsa Maggiore, 1990.
2001 Institut Marcel Proust International (Hrsg.): La Réception de Proust à l’étranger. Illiers-Combray: Société des Amis de Marcel Proust, 2001.
2002 Herbert E. Craig: Marcel Proust and Spanish America. From Critical Response to Narrative Dialogue. London: Associated University Presses, 2002.
2009 Hongmei He: La réception de Marcel Proust en Chine. De la lecture critique à la lecture créatrice. Aix/Marseille: Université de Provence, 2009.
Die Kritik zu Lebzeiten
»The clumsy centipedalian crawling of the interminable sentences.« (Arnold Bennett in Erinnerung an eine Lektüre von Swann kurz vor Prousts Tod; in: A. B., Things that have interested me, London: Chatto & Windus, 1926, S. 197.)
Swann (erschienen 14. 11. 1913) Man muss Grasset zugutehalten, dass er das Erscheinen von Du côté de chez Swann in professioneller Manier nach modernsten Maßstäben vorbereitet hatte. Zahlreiche Besprechungsexemplare wurden beizeiten versandt, der Freundeskreis Prousts wurde animiert, Rezensionen zu verfassen.