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Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen FischerЧитать онлайн книгу.

Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« - Bernd-Jürgen Fischer


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denken wir an jenen Roman ohne Handlung, von dem die Naturalisten träumten und den sie zu schreiben versuchten. ›Huysmans‹, sagt Rémy de Gourmont, ›dachte lange Zeit über ein Buch mit folgendem Plan nach: Jemand verlässt seine Wohnung auf dem Weg ins Büro, sieht, dass seine Schuhe ungeputzt sind, lässt sie putzen und denkt derweilen über seine Geschäfte nach, und geht dann weiter. Das Problem war, die Sache auf 300 Seiten auszudehnen.‹« James Joyce’ Ulysses, der einen Tag im Leben des Leopold Blum beschreibt, war da schon in Arbeit und erschien nur zwei Jahre später. Und erscheint ›Marcels‹ Leben, oder genauer gesagt die Erinnerung an sein Leben, nicht eigentlich auch wie ein einziger Tag, der im Fluge vergeht?

      Guermantes I (erschienen 22. 10. 1920) und Guermantes II (erschienen 29. 4. 1921) Ich fasse hier die Stimmen zu Guermantes zusammen und unter Sodom I die Stimmen zum Thema Homosexualität in der Suche.

      Der erste Teil von Guermantes hat erstaunlich geringen Widerhall in der öffentlichen Presse gefunden; Paul Souday, der es sich als aufmerksamer Proust-Beobachter nicht hat nehmen lassen, auch diesen Band ausführlich in Le Temps vom 4. November 1920 zu besprechen, weist gleich zu Anfang auf einen möglichen Grund hin: »Dieser dritte Teil ist nur ein Übergangsband, weniger in sich abgeschlossen als die beiden anderen, und dient vor allem dazu, die beiden letzten Bände vorzubereiten, die schrecklich werden dürften und uns den Ankündigungen zufolge bis nach Sodom und nach Gomorrha verschleppen sollen.« Auch die römische Eins hinter dem Titel mag so manchen Rezensenten bewogen haben, erst einmal abzuwarten. Souday geht in dieser ­Rezension ungewohnt milde mit Proust um. Er verdeutlicht anhand umfangreicher Textauszüge, wie präzise und gnadenlos Proust die »Arroganz (insolence) und Flegelhaftigkeit (grossièreté)« einer Schicht geißelt, von der Souday kaum zu glauben vermag, dass es sie »von diesem Kaliber« noch gibt: »eine Schatztruhe voller scharfsinniger Betrachtungen, empfindsamer und profunder Wahrnehmungen, lebhafter und subtiler Vorstellungen.« Die Milde ist vielleicht der Tatsache zu verdanken, dass Souday in diesem Zusammenhang Gelegenheit findet, in subtiler Weise die »kleine Bosheit« von 1913 heimzuzahlen: Sein Zitat der Passage, in der sich der Erzähler darüber ärgert, dass er die Gelegenheit verpasst hat, sich bei der Herzogin von Guermantes einzuschmeicheln, indem er ihr Bergotte vorstellt, und sich stattdessen seiner Bekanntschaft mit dem Literaten geschämt hat, kommentiert Souday süffisant: »Gut gemacht, mein Freund, zu deinem eigenen Schaden! Das wird dich lehren, den Umgang mit einem überlegenen Geist, der dich andernfalls hochzuschätzen wüsste, für kompromittierend zu halten und ihm den erstbesten Dummkopf mit Adelsprädikat vorzuziehen.« Zum Ende seiner Rezension weist Souday noch auf zwei »exquisite und bewundernswerte Gemälde« im Text hin, »deren deskriptive Meisterschaft mit den größten Malern wetteifert: ich empfehle insbesondere den Böcklin [die Bai­gnoire-Szene S. 50–52], der sehr viel harmonischer ist als jene in Basel [s. insbes. Spiel der Najaden, 1886], und den Rembrandt [Der Antiquitätenladen, S. 127 f.].«

      André Gide nutzt die Gelegenheit des Erscheinens des dritten Bandes, um in der Nouvelle Revue Française vom 1. Mai 1921 in einem seiner regelmäßigen literaturkritischen Briefe Billet à Angèle an eine fiktive Adressatin in der NRF einen Überblick über die vorliegende erste Hälfte des Gesamtprojekts der Suche zu geben, die bekannten Kritikpunkte zu entkräften und vor allem die unvergleichlichen Stärken auf den Punkt zu bringen: »Da die Dinge, die er beobachtet, die selbstverständlichsten von der Welt sind, kommt es uns, wenn wir ihn lesen, ständig so vor, als seien wir selbst es, in die er uns einen Blick gestattet.« Dies erinnert sehr an Proust selbst, der in WZ, also sehr viel später, schreibt: »mit meinem Buch würde ich ihnen [den Lesern] das Mittel an die Hand geben, in sich selbst zu lesen.« Gide wendet sich dann dem Stil Prousts zu und konstatiert begeistert: »Soll ich etwas gestehen? Jedesmal, wenn ich in diesem Meer von Herrlichkeiten geschwommen bin, wage ich es eine Reihe von Tagen nicht mehr, die Feder in die Hand zu nehmen […] und kann in dem, was Du die ›Reinheit‹ meines Stils nennst, nur noch Armut erkennen.« Dann wendet er sich dem beliebtesten Beschwernis der Proust-Anfänger zu, der Satzlänge: »Warte nur, bis ich zurückkomme und Dir diese endlosen Sätze laut vorlese: sofort fällt alles einfach an seinen Platz! Die verschiedenen Ebenen nehmen eine nach der anderen ihren Platz ein, die Landschaft seiner Gedanken vertieft sich einfach immer weiter! […] Ich kann Dir [mit meiner Intonation] beweisen, dass es nichts Überflüssiges gibt in diesem Satz, dass jedes Wort notwendig ist, um die verschiedenen Ebenen getrennt zu halten und seine Komplexität erblühen zu lassen.« Zum Abschluss seiner im Ganzen äußerst lesenswerten Rezension verweist Gide auf die Umstände, unter denen Prousts Werk erscheint: »Es ist seltsam, dass solche Bücher in einem Augenblick erscheinen, in dem überall Ereignisse über Ideen triumphieren, in dem die Zeit knapp ist, in dem Handeln das Denken zum Gespött macht, in dem Besinnung nicht mehr möglich oder zulässig zu sein scheint, in dem wir, die sich noch nicht gänzlich vom Krieg erholt haben, keine anderen Erwägungen mehr anstellen als die der Nützlichkeit, der Dienlichkeit. Und auf einmal scheint uns Prousts Werk, das so uneigennützig, so genügsam ist, ertrag- und hilfreicher zu sein als so manches Werk, dessen Nützlichkeit seine einzige Rechtfertigung ist.« Ist die Zeit stehengeblieben?

      Gides Angebot an »Angèle«, ihr einen längeren Satz Prousts vorzulesen, hätte übrigens Paul Souday gern selbst wahrgenommen: In seiner Rezension von Guermantes II vom 12. Mai 1921 in Le Temps zitiert er einen Kandidaten für ein solches Unternehmen (den ich so strukturgetreu wie irgend möglich übersetzt habe):

      Liegt es daran, dass wir unsere Jahre nicht in ihrer ungebrochenen Abfolge wieder durchleben, Tag für Tag, sondern in der Erinnerung in der Kühle oder der Durchsonntheit eines Morgens oder eines Abends erstarrt, im Schatten dieses oder jenes abgeschiedenen, umschlossenen Ortes, unbeweglich, gefangen und verloren, fern von allem anderen, und so die allmählichen Veränderungen nicht nur außerhalb unserer selbst, sondern in unseren Träumen und unserem sich entwickelnden Charakter, die uns im Leben unmerklich von einer Zeit in eine völlig andere geleitet haben, unterdrückt werden, dass wir, wenn wir eine neue, aus einem anderen Jahr stammende Erinnerung wieder durchleben, zwischen den beiden, dank von Auslassungen, von immensen Wänden des Vergessens, so etwas wie einen abgründigen Höhenunterschied, wie die Unvereinbarkeit zweier nicht vergleichbarer Eigenschaften, geatmeter Atmosphäre und umgebender Farbtönungen, feststellen?16

      und kommentiert: »Glasklar. Aber er würde noch klarer für uns werden vermöge der ausgefeilten Vortragskunst eines André ­Gide.« In der Tat fällt es schwer, am Ende des Satzes seinen Anfang zu erinnern – aber ist die Suche nicht ganz wesentlich auch ein Buch über das Erinnern? Und ist das Problem des Erinnerns nicht insbesondere, den Anfang wiederzufinden, sich zu entsinnen, wie alles begann?

      Sodom und Gomorrha I (erschienen 29. 4. 1921) Ich fasse hier die Stimmen zum Thema Homosexualität in den ersten vier Bänden zusammen.

      Die lesbische Szene in Montjouvain (Combray II) war schon vor Erscheinen von WS auf einigen Widerstand gestoßen; so hatte der Schriftsteller Louis de Robert, der mit Begeisterung die Grasset-Fahnen las, Proust empfohlen, die Passage zu entschärfen, was Proust aber dezidiert mit den Worten ablehnte: »ich kann nicht die Ergebnisse moralischer Erfahrungen verändern, die ich vielmehr mit der Aufrichtigkeit eines Chemikers zu vermitteln habe« (Corr. XII, S. 271). Souday hatte dann in seiner Rezension von WS in Le Temps vom 10. Dezember 1913 kategorisch erklärt, dass »Szenen von so zweifelhaftem Geschmack ganz und gar nicht notwendig« seien. Und auch Francis Jammes, der nicht im Ruf erotischer Zimperlichkeit stand, hatte einem Brief an Henri Ghéon vom 2. Januar 1914 zufolge Proust geraten, in der nächsten Auflage die Stelle zu unterdrücken (Corr. XIII, S. 26). Es war also zu erwarten, dass Sodom und Gomorrha I Beachtung finden und Interesse an den Folgebänden wecken würde; auf der anderen Seite waren auch Fehldeutungen zu erwarten, da sich der Stellenwert dieses Essays im Rahmen des ganzen Romanprojekts so noch nicht abschätzen ließ und er deshalb mehr oder weniger als ein Text für sich gelesen wurde. Montjouvain war schon vergessen, und in Mädchenblüte und Guermantes spielt Homosexualität eine nur so unterschwellige Rolle, dass sich eine Lesung von Sodom I ausschließlich im Licht des Vorangegangenen kaum anbot. Umgekehrt lässt wohl erst dessen erneute Lektüre im Lichte von Sodom I das Verhalten des Baron de Charlus in Mädchenblüte verdächtig erscheinen oder das von Monsieur d’Argencourt in Guermantes verständlich. Es geht da wohl dem Leser nicht anders als Marcel: hinterher sind wir alle klüger.

      Die nächstliegende und


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