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Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen FischerЧитать онлайн книгу.

Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« - Bernd-Jürgen Fischer


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treibt in den Cahiers de la Quinzaine vom 25. Februar 1930 diese Denkrichtung, die noch einige Jahre in Frankreich die Diskussion bestimmen sollte, mit der Erklärung, Proust sei »ein Kranker, ein willenloser Mensch, der seine Zeit damit verbringt, sich selbst zu analysieren«, auf die Spitze. Als Reaktion auf diese Entwicklung veröffentlichte die gleiche Gruppe, die auch das Aprilheft von Le Rouge et le noir bestritten hatte, eine Défense de Marcel Proust, in der zwar Henri Bonnet auf den optimistischen Grundton des Werkes hinweist, die aber im großen und ganzen wenig Wirkung hatte, da sich die Mehrzahl der Autoren auf die Kernpunkte der klassischen Interpretation zurückzogen. Der kontinuierliche Rückgang des Interesses an Prousts Werk im Schatten der Freudianischen Analyse fand seinen markantesten Ausdruck in einer Rundfrage Gaston Picards für die Revue mondiale vom Dezember 1929 unter neun Autoren, von denen acht der Frage zustimmten, ob sie es nicht leid seien, »diese schicken Leute, diese lasterhaften Müßiggänger heiliggesprochen« zu sehen, »deren oft unerquickliche Fälle uns gemäß den Riten des Freudschen oder des Proustschen Evangeliums dargelegt werden«.

      »Thomas Mann hätte wahrscheinlich gesagt: ›Proust und kein Ende‹.« (Jean Jacques Nattiez, Le Combat de Chronos et d’Orphée, Oxford University Press 2004, S. 183.)

      Während Prousts Leserschaft in Frankreich in den dreißiger Jahren stetig abnahm, differenzierte sich das literaturwissenschaftliche Interesse an der Suche, und es erschien eine Reihe von Spezialuntersuchungen zur ihrer Genese (Feuillerat 1934) und zu einzelnen Aspekten wie der Behandlung der Musik (Benoist-Méchin 1926), der Psychologie (Blondel 1932), des Raumes (Ferré 1939), der Ästhetik (Fiser 1933) oder des Mystizismus (Pommier 1939).23 Samuel Beckett stellte 1931 in seinem Essay Marcel Proust die Verbindung zu Schopenhauer her und reflektierte über Zeit, Gewohnheit, Musik und Philosophie bei Proust. Ernst Robert Curtius veröffentlichte 1925 in seiner Schrift Französischer Geist im neuen Europa eine Zusammenfassung seiner früheren Artikel zu Proust, von der zahlreiche Anregungen vor allem zu stilistischen Untersuchungen ausgingen (Spitzer 1928).

      Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Interesse an Proust eine Renaissance in Frankreich, insbesondere nachdem 1952 Jean Santeuil und 1954 Contre Sainte-Beuve publiziert wurden, die ein neues Licht auf die Genese der Suche warfen. Die Neuausgabe 1954 in der kritischen Bearbeitung von Pierre Clarac und André Ferré stellte zudem der Diskussion und auch den Übersetzungsbemühungen erstmals eine belastbare Textversion zur Verfügung. Die Folge war eine reiche Ernte an Analysen, die zwar im wesentlichen Themen aufnahmen, die schon in den zwanziger und dreißiger Jahren diskutiert wurden, diese nun aber in ganz anderer Schärfe behandeln konnten. Mit dem Aufkommen des Nouveau Roman, der sich mit seinen minutiösen Beschreibungen zum Teil auch explizit auf Proust bezieht (so Natalie Sarraute in L’Ère du soupçon, 1956), gewann Proust zudem den Status eines Vorläufers der Moderne. Ein reges Interesse fand Proust insbesondere auch in Italien, wo 1946–1953 der größte Teil von Prousts Werk übersetzt wurde und darauf aufbauend eine rege Diskussion stattfand. Das Interesse in der englischsprachigen Welt war stets ungebrochen geblieben; hier sind als wichtigste Beiträge Philip Kolbs Studie von 1948 zu Prousts Korrespondenz hervorzuheben, die schließlich zu der 21bändigen Ausgabe La Correspondance de Marcel Proust führte, und die umfassende Biographie von Painter 1959, die bei allen Mängeln aus heutiger Sicht zu ihrer Zeit ein wichtiges Arbeitsin­strument zur Verfügung stellte.

      Die Auseinandersetzung mit Prousts Werk war in den sechziger und siebziger Jahren geprägt von der Diskussion um die Frage, wodurch denn eigentlich der Eindruck einer Kontinuität in der Suche trotz des offenkundigen Episodencharakters der Erzählweise zustande kommt. Gegen Georges Poulets Deutung in L’Éspace proustien (1963), dass das Bewusstsein des Erzählers die einheitsstiftende Instanz bilde (s. insbes. Kap. IX, S. 93–112 der deutschen Ausgabe24), wendet sich bei einer Table ronde 1975 Gilles Deleuze, der vor allem in den Querverbindungen (»transversales«), die durch gemeinsame Merkmale im erinnernden Rückbezug hergestellt werden, die »Fäden des Spinnennetzes« sieht, »das vor unseren Augen gewebt wird«.25 Proust selbst liefere hier, wie Deleuze schon 1963 in Proust et les signes (S. 126) betont, den entscheidenden Hinweis:

      Denn was wir für unsere Liebe, unsere Eifersucht halten, ist keine fortdauernde, unteilbare Leidenschaft. Sie bestehen aus einer Unendlichkeit von aufeinanderfolgenden Lieben, verschiedenen Eifersüchten, die kurzlebig sind, aber ihre lückenlose Vielzahl vermittelt den Eindruck der Kontinuität, die Illusion der Einheit. (WS S. 511.)

      In Hinblick auf die »innombrable« und »insaisissable« Albertine mit ihrem wandernden Schönheitsfleck ließe sich auch auf Fran­çoises Küchenhilfe verweisen:

      Das Küchenmädchen war eine juristische Person, eine ständige Einrichtung, der die Zuschreibung unveränderlicher Merkmale durch die Abfolge flüchtiger Gestalten hindurch, in denen sie Fleisch wurde, eine Art von Kontinuität und Identität verschaffte: denn wir hatten niemals länger als zwei Jahre hintereinander das gleiche. (WS S. 115.)

      Malcolm Bowie nimmt 1998 in Proust Among the Stars die Diskussion um die Kontinuität bei Proust wieder auf und sieht deren Quelle vor allem in Prousts Technik, gedankliche Schritte in die Zukunft noch im selben Satz durch Rückgriffe auf die erinnerte Vergangenheit abzusichern oder sie überhaupt schon gleich in die Vergangenheit zu verlegen. Damit wird auch die verwickelte Struktur der Proustschen Sätze als erzählerische Notwendigkeit deutlich, denn indem so die isolierten Gegenwarten mit zeitlichen Halos umgeben werden, wird zugleich ihr Verschmelzen ermöglicht. Als markantes Beispiel führt Bowie die Passage über den Ruderer auf der Vivonne an, bei der der Erzähler seine eigenen langfristigen Zukunftserwartungen wie auch die vermutete kurzfristige des Ruderers in einem rückblickenden Satz unterbringt:

      Wie oft habe ich hier einem Ruderer zugesehen, habe ich mir gewünscht, es ihm gleichzutun, wenn es mir freistünde, ganz nach meinem Belieben zu leben, der seine Riemen eingelegt hatte und sich, am Boden seines Bootes auf dem Rücken ausgestreckt, mit zurückgelegtem Kopf willenlos treiben ließ, nichts sah als den Himmel, der langsam über ihm dahinzog, und auf seinem Gesicht den Vorgeschmack von Glück und Frieden trug. (WS, S. 237.)

      Roland Barthes dagegen kommt es ohnehin im Umgang mit Prousts Werk weniger auf Interpretationen des Textes als auf seine Aneignung durch Variation an, durch jene »reécriture«, wie er sie beispielhaft in den Fragments d’un discours amoureux (1977) vorführt, wo er Albertines sprachliche Abirrungen als Ausgangspunkte zu eigenen Betrachtungen über die Liebe nimmt. Auch diese Her­angehensweise findet, wie Barthes in Proust et les noms 1969 darlegt, ihre Rechtfertigung in Prousts Text selbst, dessen Erzähler sich insbesondere Eigennamen wie etwa Guermantes oder Parme (Parma) zu eigen macht, indem er sie mit längeren Assoziationsketten und Träumereien verknüpft. Dass damit jedoch nicht der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet wird, demonstrierten Jean Milly 1974 und Claudine Quémar 1978 in Sur quelques noms proustiens (in: Litterature 14, S. 65–82) bzw. in Rêverie(s) onomastique(s) proustienne(s) à la lumière des avant-textes (in: Litterature 28, S. 77–99) anhand einer phonetisch-phonologischen Analyse der Namen und der Bezüge zu den mit ihnen verknüpften Konzepten.

      Der Erwerb der Notizbücher (Carnets) und Kladden (Cahiers) Prousts durch die Bibliothèque nationale de France im Jahr 1962 machte es möglich, die Entstehung der Werke Prousts detailliert zu verfolgen, wie es Anthony Pugh mit seinen großangelegten Studien The Birth of »À la recherche du temps perdu« (1987) für die Jahre 1908–09 und The Growth of »À la recherche du temps perdu« (2004) für die Jahre 1909–14 unternahm. 2009 legte Akio Wada einen Index général des cahiers de brouillon de Marcel Proust vor (Osaka: Matsumotokobo), der es insbesondere ermöglicht, die Entwicklung der Namensgebung für die einzelnen Personen seit ihren ersten Vorentwürfen nachzuvollziehen. Die Publikation der einundzwanzigbändigen, ausführlich kommentierten Correspondance de Marcel Proust durch Philip Kolb in den Jahren 1970–93 ermöglichte neue Einblicke in Prousts Leben, die die Veröffentlichung einer Reihe neuer Biographien in den neunziger Jahren anstießen. Das damit neuerlich erweckte Interesse an Proust führte in den verschiedensten Ländern zur Gründung literarischer Freundeskreise; s. dazu unten, Marcel-Proust-Gesellschaften.

      Die verbesserte Forschungssituation zog zudem eine erhebliche Differenzierung in der Proust-Forschung nach sich, die sich dem Werk heute unter den verschiedensten Aspekten und in den verschiedensten Zusammenhängen


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