Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Karl Philipp MoritzЧитать онлайн книгу.
Not alle gleichmachte, und brüderliche Eintracht herrschte; wo den üppigen Einwohnern, statt ihrer jetzo unter der Last der Schüsseln seufzenden Tische, Hunger und Teurung, statt ihrer Armbänder und Geschmeide, Fesseln drohten. – Anton glaubte einen der Propheten zu hören, der im heiligen Eifer das Volk Israel strafte, und die Stadt Jerusalem wegen ihrer Verbrechen schalt. –
Anton ging aus der Kirche nach Hause, und sagte zu August kein Wort; aber er dachte von nun an, wo er ging und stund, nichts als den Pastor P[aulmann]. Von diesem träumete er des Nachts, und sprach von ihm bei Tage; sein Bild, seine Miene, und jede seiner Bewegungen hatten sich tief in Antons Seele eingeprägt. – Beim Wollekratzen in der Werkstatt, und beim Hütewaschen beschäftigte er sich die ganze Woche über mit den entzückenden Gedanken an die Predigt des Pastor P[aulmann], und wiederholte sich jeden Ausdruck, der ihn erschüttert, oder zu Tränen gerührt hatte, zu unzähligen Malen. Seine Einbildungskraft schuf sich dann die alte majestätische Kirche, und die lauschende Menge, und die Stimme des Predigers hinzu, welche itzt in seiner Phantasie noch weit himmlischer klang. – Er zählte Stunden und Minuten bis zum nächsten Sonntage.
Dieser kam; und ist je ein unauslöschlicher Eindruck auf [84]Antons Seele gemacht worden, so war es die Predigt, die er an dem Tage hörte. – Die Anzahl von Menschen war womöglich noch größer, als am vorigen Sonntage. – Vor der Predigt wurde ein kurzes Lied gesungen, worin die Worte des Psalms vorkommen:
»Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte? wer wird bleiben auf deinem heiligen Berge?
Wer ohne Wandel einhergehet und recht tut, und redet die Wahrheit von Herzen.
Wer mit seiner Zungen nicht verleumdet, und seinem Nächsten kein Arges tut, und seinen Nächsten nicht schmähet.
Wer die Gottlosen nichts achtet, und ehret die Gottesfürchtigen: Wer seinem Nächsten schwöret, und hält’s.
Wer sein Geld nicht auf Wucher gibt, und nimmt nicht Geschenk über den Unschuldigen. Wer das tut, der wird wohl bleiben.«
Durch dies kurze und erschütternde Lied wurde man gleichsam voll Erwartung dessen, was da kommen sollte. Das Herz war zu großen und erhabnen Eindrücken vorbereitet, als der Pastor P[aulmann] mit feierlichem Ernst in seiner Miene, wie ganz in sich versenkt, auftrat, und ohne Gebet und Eingang, mit ausgestrecktem Arm, zu reden anhub und sprach:
»Wer nicht Witwen und Waisen drückt; wer nicht heimlicher Verbrechen sich bewusst ist; wer seinen Nächsten nicht mit Wucher übervorteilet; wem kein Meineid die Seele belastet; der hebe voll Zutrauen seine Hände mit mir zu Gott empor, und bete: Vater unser! usw.«
[85]Und nun las er das Sonntagsevangelium von Johannes dem Täufer, wo dieser gefragt wird, ob er Christus sei? »und er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte; ich bin nicht Christus! –« Von diesen Worten nahm er Gelegenheit vom Meineide zu predigen, und nachdem er die Worte des Evangeliums mit einer etwas gedämpften, feierlichern Stimme gelesen hatte, hub er nach einer Pause an:
Weh dir, der du gewissenlos
Gott, deinen Herrn verleugnet!
Was trägst du deine Stirne bloß,
Die schwarzer Meineid zeichnet? –
Mit dieser Stirne logst du Gott,
Sein heil’ger Name war dir Spott,
Wie tief bist du gefallen!
Weh dir, vor Gottes Angesicht
Trittst du – er kennet deiner nicht –
Unglücklichster von allen,
Die einer Mutter Brust gesäugt –
Verzweifle nicht – vielleicht, vielleicht,
Dass einst nach deiner Tränen Menge,
Die Flamm’ in deinem Busen löscht,
Und Reue, mit der Jahre Länge,
Die Schuld von deiner Seele wäscht.
Der du die Freveltat begannst,
O gib, wenn du noch weinen kannst,
Die Hoffnung nicht verloren –
Gott wendet noch sein Angesicht,
Er will den Tod des Sünders nicht,
Sein Mund hat es geschworen. –
[86]Diese Worte, mit öftern Pausen, und dem erhabensten Pathos gesprochen, taten eine unglaubliche Wirkung. – Man atmete, da sie geendigt waren, tiefer herauf; man wischte sich den Schweiß von der Stirn. – Und nun wurde die Natur des Meineides untersucht, seine Folgen in ein schreckliches und immer schrecklicher Licht gestellt. Der Donner rollte auf das Haupt des Meineidigen herab, das Verderben nahte sich ihm, wie ein gewappneter Mann, der Sünder erbebte in den innersten Tiefen seiner Seele – er rief, »ihr Berge fallet über mich, und ihr Hügel bedecket mich!« – Der Meineidige erhielt keine Gnade, er wurde vor dem Zorn des Ewigen vernichtet. –
Hier schwieg er, wie erschöpft – ein panisches Schrecken bemächtigte sich aller Zuhörer. – Anton rechnete in der Eile die Jahre seines Lebens hindurch, ob er sich nicht etwa eines Meineids schuldig gemacht habe.
Aber nun begann der Zuspruch – dem Verzweifelnden wurde Gnade und Verzeihung angekündigt – wenn er zehnfach büßte, was er Witwen und Waisen entrissen; wenn er sein ganzes Leben hindurch seine Schuld mit Tränen der Reue und guten Werken wieder abzuwaschen suchte.
Die Gnade wurde dem Verbrecher nicht so leicht gemacht; sie musste durch Gebet und Tränen errungen werden. Und jetzt war es, als wolle er sie durch sein eignes Gebet und Tränen vor allem Volke vor Gott erringen, indem er sich selbst an die Stelle des seelenzerknirschten Sünders setzte. –
Dem Verzweifelnden wurde zugerufen: »knie nieder in Staub und Asche, bis deine Knie wund sind, und sprich: ich habe gesündiget im Himmel und vor dir« – und so fing sich [87]ein jeder Periode an mit: »ich habe gesündigt im Himmel und vor dir!« und dann folgte nach der Reihe das Bekenntnis: »Witwen und Waisen hab ich unterdrückt; dem Schwachen hab ich seine einzige Stütze, dem Hungrigen sein Brot genommen« – so ging es durch das ganze Register der Freveltaten. – Und jeder Periode schloss sich dann – »Herr, ist es möglich, dass ich noch Gnade finde!« –
Alles zerschmolz nun in Wehmut und Tränen. – Der Refrain bei jedem Perioden tat eine unglaubliche Wirkung – es war, als wenn jedes Mal die Empfindung einen neuen elektrischen Schlag erhielt, wodurch sie bis zum höchsten Grade verstärkt wurde. – Selbst die zuletzt erfolgende Erschöpfung, die Heiserkeit des Redners (es war, als schrie er zu Gott für die Sünden des Volks) trug zu der allgemeinen um sich greifenden Rührung bei, die diese Predigt verursachte; da war kein Kind, das nicht sympathetisch mitgeseufzt und mitgeweint hätte.
Drittehalb Stunden waren schon, wie Minuten verflossen – plötzlich hielt er inne, und schloss nach einer Pause mit denselben Versen, womit er begann. – Mit erschöpfter gedämpfter Stimme las er nun die öffentliche Beichte, das Sündenbekenntnis, und die darauf erfolgende angekündigte Vergebung ab; darauf betete er für diejenigen, welche zum Abendmahl gehen wollten, worin er sich mit einschloss, und dann sprach er mit aufgehabenen Händen den Segen. – Der Abfall der Stimme bei diesem allen gegen den Ton, welcher in der Predigt herrschte, hatte viel Feierliches und Rührendes.
Anton ging nun nicht aus der Kirche, er musste erst den Pastor P[aulmann] zum Abendmahl gehen sehen. – Alle Schritte desselben waren ihm nun heilig. Mit einer Art von [88]Ehrfurcht trat er auf den Fleck, wo er wusste, dass der Pastor P[aulmann] gegangen war. – Was hätte er itzt darum gegeben, dass er schon zum Abendmahl hätte mitgehen dürfen! Er sahe nun den Pastor P[aulmann] zu Hause gehen, dessen Sohn, ein Knabe von neun Jahren, nebenherging. – Seine ganze Existenz hätte Anton darum gegeben, um dieser glückliche Sohn zu sein. – Wenn er nun den Pastor P[aulmann] sahe, wie er mit der Gemeine, die ihn von allen Seiten umwallte, über die Straße ging, und immer von beiden Seiten, denen, die ihn grüßten, freundlich dankte, so war es, als ob er um sein Haupt einen gewissen Schimmer erblickte, und unter den übrigen Sterblichen ein übermenschliches