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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Karl Philipp MoritzЧитать онлайн книгу.

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman - Karl Philipp Moritz


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fiel es ihm ein, wieder zu heiraten, und er machte mit Antons Mutter Bekanntschaft, welche bald in die Heirat willigte, das sie nie würde getan haben, hätte sie die Hölle von Elend vorausgesehen, die ihr im Ehestande drohete. Sie versprach sich von ihrem Manne noch mehr Liebe und Achtung, als sie vorher bei ihren [14]Anverwandten genossen hatte, aber wie entsetzlich fand sie sich betrogen.

      Sosehr die Lehre der Mad. Guion von der gänzlichen Ertötung und Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften, mit der harten und unempfindlichen Seele ihres Mannes übereinstimmten, so wenig war es ihr möglich, sich jemals mit diesen Ideen zu verständigen, wogegen sich ihr Herz auflehnte.

      Dies war der erste Keim zu aller nachherigen ehelichen Zwietracht.

      Ihr Mann fing an, ihre Einsichten zu verachten, weil sie die hohen Geheimnisse nicht fassen wollte, die die Madam Guion lehrte.

      Diese Verachtung erstreckte sich nachher auch auf ihre übrigen Einsichten, und je mehr sie dies empfand, je stärker musste notwendig die eheliche Liebe sich vermindern, und das wechselseitige Missvergnügen aneinander mit jedem Tage zunehmen.

      Antons Mutter hatte eine starke Belesenheit in der Bibel, und eine ziemlich deutliche Erkenntnis von ihrem Religionssystem, sie wusste z. E. sehr erbaulich davon zu reden, dass der Glaube ohne Werke tot sei, usw.

      In der Bibel las sie wirklich zu ganzen Stunden mit innigem Vergnügen, aber sobald ihr Mann es versuchte, ihr aus den Guionschen Schriften vorzulesen, so empfand sie eine Art von Bangigkeit, die vermutlich aus der Vorstellung entstand, sie werde dadurch in dem rechten Glauben irregemacht werden.

      Sie suchte sich alsdann auf alle Weise loszumachen. – Hiezu kam nun noch, dass sie vieles von der Kälte und dem lieblosen Wesen ihres Mannes auf Rechnung der [15]Guionschen Lehre schrieb, die sie nun in ihrem Herzen immer mehr zu verwünschen anfing, und bei dem völligen Ausbruch der ehelichen Zwietracht sie laut verwünschte.

      So wurde der häusliche Friede und die Ruhe und Wohlfahrt einer Familie jahrelang durch diese unglücklichen Bücher gestört, die wahrscheinlich einer so wenig, wie der andere verstehen mochte.

      Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, dass er von der Wiege an unterdrückt ward.

      Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm, und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes.

      Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wusste nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide hassten, und ihm doch einer so nahe wie der andre war.

      In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln.

      Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der Klagen.

      Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.

      Da sein Vater im siebenjährigen Kriege mit zu Felde war, zog seine Mutter zwei Jahre lang mit ihm auf ein kleines Dorf.

      [16]Hier hatte er ziemliche Freiheit und einige Entschädigung für die Leiden seiner Kindheit.

      Die Vorstellungen von den ersten Wiesen, die er sahe, von dem Kornfelde, das sich einen sanften Hügel hinanerstreckte, und oben mit grünem Gebüsch umkränzt war, von dem blauen Berge, und den einzelnen Gebüschen und Bäumen, die am Fuß desselben auf das grüne Gras ihren Schatten warfen, und immer dichter und dichter wurden, je höher man hinaufstieg, mischen sich noch immer unter seine angenehmsten Gedanken, und machen gleichsam die Grundlage aller der täuschenden Bilder aus, die oft seine Phantasie sich vormalt.

      Aber wie bald waren diese beiden glücklichen Jahre entflohen!

      Es ward Friede, und Antons Mutter zog mit ihm in die Stadt zu ihrem Manne.

      Die lange Trennung von ihm verursachte ein kurzes Blendwerk ehelicher Eintracht, aber bald folgte auf die betrügliche Windstille ein desto schrecklicherer Sturm.

      Antons Herz zerfloss in Wehmut, wenn er einem von seinen Eltern Unrecht geben sollte, und doch schien es ihm sehr oft, als wenn sein Vater, den er bloß fürchtete, mehr Recht habe, als seine Mutter, die er liebte.

      So schwankte seine junge Seele beständig zwischen Hass und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen, zu seinen Eltern hin und her.

      Da er noch nicht acht Jahr alt war, gebar seine Mutter einen zweiten Sohn, auf den nun vollends die wenigen Überreste väterlicher und mütterlicher Liebe fielen, so dass er nun fast ganz vernachlässiget wurde, und sich, sooft man von ihm sprach, mit einer Art von Geringschätzung [17]und Verachtung nennen hörte, die ihm durch die Seele ging.

      Woher mochte wohl dies sehnliche Verlangen nach einer liebreichen Behandlung bei ihm entstehen, da er doch derselben nie gewohnt gewesen war, und also kaum einige Begriffe davon haben konnte?

      Am Ende freilich ward dies Gefühl ziemlich bei ihm abgestumpft; es war ihm beinahe, als müsse es beständig gescholten sein, und ein freundlicher Blick, den er einmal erhielt, war ihm ganz etwas Sonderbares, das nicht recht zu seinen übrigen Vorstellungen passen wollte.

      Er fühlte auf das innigste das Bedürfnis der Freundschaft von seinesgleichen: und oft, wenn er einen Knaben von seinem Alter sahe, hing seine ganze Seele an ihm, und er hätte alles drum gegeben, sein Freund zu werden; allein das niederschlagende Gefühl der Verachtung, die er von seinen Eltern erlitten, und die Scham, wegen seiner armseligen, schmutzigen, und zerrissnen Kleidung hielten ihn zurück, dass er es nicht wagte, einen glücklichern Knaben anzureden.

      So ging er fast immer traurig und einsam umher, weil die meisten Knaben in der Nachbarschaft ordentlicher, reinlicher, und besser, wie er, gekleidet waren, und nicht mit ihm umgehen wollten, und die es nicht waren, mit denen mochte er wieder, wegen ihrer Liederlichkeit, und auch vielleicht aus einem gewissen Stolz, keinen Umgang haben.

      So hatte er keinen, zu dem er sich gesellen konnte, keinen Gespielen seiner Kindheit, keinen Freund unter Großen noch Kleinen.

      Im achten Jahre fing denn doch sein Vater an, ihn selber etwas lesen zu lehren, und kaufte ihm zu dem Ende zwei [18]kleine Bücher, wovon das eine eine Anweisung zum Buchstabieren, und das andre eine Abhandlung gegen das Buchstabieren enthielt.

      In dem ersten musste Anton größtenteils schwere biblische Namen, als: Nebukadnezar, Abednego, usw., bei denen er auch keinen Schatten einer Vorstellung haben konnte, buchstabieren. Dies ging daher etwas langsam.

      Allein sobald er merkte, dass wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetzten Buchstaben ausgedrückt waren, so wurde seine Begierde, lesen zu lernen, von Tage zu Tage stärker.

      Sein Vater hatte ihm kaum einige Stunden Anweisung gegeben, und er lernte es nun, zur Verwunderung aller seiner Angehörigen, in wenig Wochen von selber.

      Mit innigem Vergnügen erinnert er sich noch itzt an die lebhafte Freude, die er damals genoss, als er zuerst einige Zeilen, bei denen er sich etwas denken konnte, durch vieles Buchstabieren, mit Mühe herausbrachte.

      Nun aber konnte er nicht begreifen, wie es möglich sei, dass andre Leute so geschwind lesen konnten, wie sie sprachen; er verzweifelte damals gänzlich an der Möglichkeit, es je so weit zu bringen.

      Um desto größer war nun seine Verwunderung und Freude, da er auch dies nach einigen Wochen konnte.

      Auch schien ihn dieses bei seinen Eltern, noch mehr aber bei seinen Anverwandten in einige Achtung zu setzen, welches von ihm zwar nicht unbemerkt blieb, aber doch nie die eigentliche Ursach ward, die ihn zum Fleiß anspornete.

      Seine Begierde zu lesen, war nun unersättlich. Zum Glücke standen in dem Buchstabierbuche, außer den biblischen Sprüchen, auch einige Erzählungen von frommen Kindern, [19]die mehr wie hundertmal von ihm durchgelesen wurden, ob sie


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