Heilung – Initiation ins Göttliche. Peter MaierЧитать онлайн книгу.
„Familienaufstellung“ angemeldet, die die oben erwähnte Heilpraktikerin in regelmäßigen Abständen für ihre Klienten anbietet. Hierbei handelt es sich um eine spezielle Methode aus der Familientherapie. Ein Teilnehmer stellt zunächst sein Problem oder Thema, das ihn beschäftigt, im Kreis der anderen Teilnehmer und der Leiterin vor. Dann sucht er sich unter den anderen Teilnehmern sogenannte Stellvertreter für die Mitglieder seiner Familie aus, die er aufstellen möchte. Auf Anraten der Leiterin bittet er anschließend die gewählten Personen, sich im Raum so hinzustellen, wie er seine Familienverhältnisse und die Beziehungen seiner Verwandten untereinander und zu sich selbst empfindet. Dabei werden auch bereits verstorbene Familienmitglieder mit berücksichtigt. Zum Schluss wird auch der „Fallgeber“ selbst durch einen anderen Teilnehmer ersetzt, so dass der Protagonist aufmerksam von außen zuschauen kann. Meist kann man schon als Laie erkennen, wenn etwas nicht stimmt, etwa wenn die Stellvertreter für Vater und Mutter in entgegengesetzte Richtungen blicken oder sehr nahe Familienmitglieder recht weit voneinander entfernt stehen.
Schon am Morgen dieses Familienaufstellungs-Tages bin ich mit meinem Fall an der Reihe. Ich möchte nur zwei Personen hinstellen lassen – meine Mutter und mich selbst. Ohne lange zu überlegen, suche ich zwei Vertreter aus den anwesenden Teilnehmern aus und stelle sie im Raum auf. Nicht nur ich, sondern auch die übrigen Teilnehmer können jetzt sofort erkennen: Die Mutter steht mir sehr nahe – vielleicht sogar zu nahe –, schräg auf meiner linken Seite, keine 20 Zentimeter von mir entfernt. Je nach Blickwinkel könnte man sagen: Sie steht mir oder ich stehe ihr im Weg. Sie blickt in die Ferne, hat anscheinend gar nicht so viel mit mir zu tun. Zu welchen Personen blickt sie denn dann? Die Leiterin gibt den Impuls, dass es sich dabei um bereits verstorbene nahe Verwandte handeln könnte.
Der Mann, der mich vertritt, sagt plötzlich, dass ihm gegenüber drei Tote seien, dass er diese sehr gut spüren könne. Nun wird es ziemlich gruselig für mich. Wer sollten denn diese drei Toten sein? Die Leiterin frägt, ob die Mutter womöglich verstorbene Geschwister hatte. Gibt es vielleicht noch unbekannte Geschwister meiner Mutter, deren Schicksal im Laufe der Zeit in meiner Herkunftsfamilie verdrängt wurde? So verrückt es für mich klingen mag: Kann es sein, dass es vergessene Tote gibt, die aus meinem linken Knie schreien, dass somit sie die eigentliche Ursache für den Dauerschmerz sein könnten? Solche Gedanken beschäftigen mich schon während der Aufstellung, mehr aber noch in den Tagen danach. Sie lassen mir keine Ruhe mehr.
Bereits am Abend des gleichen Tages rufe ich bei meiner Mutter an. Von ihrem 1972 früh verstorbenen Bruder weiß ich noch. Da gibt meine Mutter zu, dass es tatsächlich noch drei weitere Brüder lange vor ihrer Zeit gegeben habe, die schon bald nach der Geburt wieder gestorben seien – so um die Zeit des ersten Weltkriegs herum und kurz danach. Ich schreibe meiner Tante, der viel älteren Schwester meiner Mutter, einen langen Brief und bitte sie, mir so genau wie möglich Auskunft über das Schicksal dieser Brüder zu geben.
Schon nach einigen Tagen erhalte ich einen ausführlichen Antwortbrief von ihr – gestochen geschrieben, exakt recherchiert. Dies erstaunt mich, schließlich ist meine Tante schon 86 Jahre alt. Als Erstgeborene in ihrer Familie kann sie mir sehr genaue Auskünfte über ihre jüngeren Brüder geben. Sie weiß Geburts- und Todesjahre, sowie die Umstände ihres Todes. Dies ist sehr aufschlussreich für mich. Tatsächlich sind zwei ihrer Brüder, die nach ihr noch während des ersten Weltkriegs geboren wurden, schon einige Wochen oder Monate nach ihrer Geburt an damals typischen Kinderkrankheiten wieder gestorben. Für meine Oma, die zu dieser Zeit allein in Nürnberg lebte, war dies jedes Mal ein großer Schock. Der dritte Bruder sei dann bei einem tragischen Unfall – einem Feuer – bald nach Ende des Krieges in dem Dorf ums Leben gekommen, in das meine Großmutter zusammen mit meinem Großvater gleich nach Kriegsende gezogen war.
In den Tagen nach der Familienaufstellung habe ich mehrere Träume von diesen Brüdern meiner Mutter, von denen ich bis dahin noch nie etwas gehört hatte. Noch bevor ich die genaueren Informationen von meiner Tante erhalte, träume ich davon, dass zwei dieser Kinder in Nürnberg beerdigt wurden und dass mein Leben blockiert bleibe, wenn ich nicht etwas zu ihrer Würdigung unternähme. Zudem habe ich einen weiteren Traum, der den Feuerunfall des dritten Jungen symbolisiert. Diese Träume nehme ich ernst. Ich erinnere mich an das Gespräch mit der Frau auf dem Weihnachtsbazar am Tag vor der Familienaufstellung. Instinktiv weiß ich jetzt sofort, was ich als Nächstes zu tun habe.
Ich kaufe große weiße Kerzen, sowie rote Wachsplatten und versehe die Kerzen mit den Namen und dem Todesjahr dieser Ahnen, die ja alle Onkel von mir waren, also durchaus nähere Verwandte. Indem ich die Buchstaben aus den Wachsplatten schneide und auf die Kerzen drückte, sowie jeweils ein großes rotes Wachskreuz auf die Kerzen forme – eine fast meditative Beschäftigung –, bekomme ich auch einen ersten inneren Kontakt zu diesen Verstorbenen, deren Schicksal mich immer mehr anrührt. Sie durften nicht leben, sie starben bereits innerhalb ihres ersten Lebensjahres.
Ich suche nach den Pfarrämtern, in deren Sprengel die Friedhöfe liegen, wo die Kinder damals beerdigt wurden. In den dazugehörigen Kirchen bestelle ich jeweils eine katholische Gedenkmesse und bitte die Pfarrer – natürlich gegen eine Spende –, die Verstorbenen, sowie mich als Auftraggeber, in diesen Gottesdiensten ausdrücklich namentlich zu erwähnen. Zudem werden diese Gedenkmessen rechtzeitig in den wöchentlichen Pfarrbriefen dieser Gemeinden schriftlich angekündigt. Bei diesen Gottesdiensten bin ich auch selbst anwesend. Als die Namen der Toten dann tatsächlich genannt werden, kommen mir die Tränen – Tränen der Anteilnahme am tragischen Schicksal dieser Ahnen. Obwohl ich die drei Onkel selbst nie kennengelernt habe, ja obwohl ich von ihrer Existenz erst einige Wochen zuvor zum ersten Mal erfahren habe, muss ich jetzt tief berührt weinen, als ich ihre Namen höre. Ich trauere ernsthaft um sie.
6. Januar 2000, Dreikönigstag. Nach der Gedenkmesse in der benachbarten Pfarrei fahre ich zum Nürnberger Südfriedhof. Laut Auskunft meiner Tante wurden dort in den Jahren 1917 und 1918 zwei ihrer Brüder beerdigt, während ihr Vater, also mein Großvater mütterlicherseits, noch in den Schützengräben von Verdun lag und versuchte, den Krieg zu überleben. Meine Großmutter hauste damals in einer Mietskaserne in Nürnberg. Ich gehe auf den Friedhof und frage Besucher nach Kindergräbern. Ich habe noch keine Ahnung, wo ich die beiden Kerzen hinstellen könnte. Dann aber geht alles sehr schnell.
Eine Frau zeigt mir die Richtung zu einem alten Friedhofsbereich mit aufgelassenen Kindergräbern.
Sofort spüre ich, dass meine Onkel vor über 80 Jahren dort beerdigt worden sein könnten. Ich finde ein noch intaktes Kindergrab mit zwei kleinen Büschen auf beiden Seiten und einem einfachen Holzkreuz in der Mitte. Der Name ist nicht mehr zu entziffern. Zu beiden Büschen am Grabende stelle ich je eine der Kerzen hin - windgeschützt in mitgebrachten hohen Gläsern. Die Namen aus rotem Wachs sind gut lesbar. Es wird wohl etwa drei volle Tage und Nächte dauern, bis die Kerzen vollständig niedergebrannt sein werden. Denn ganz innen weiß ich, dass genau dies notwendig ist. Wer wird „meine“ Kerzen und damit symbolisch meine Ahnen hüten? Ich wohne ja 180 Kilometer entfernt. Ein freundliches Ehepaar in der Nähe, die auch ein Kind verloren haben, bieten sich spontan an, die „Kerzenwache“ zu halten. Instinktiv haben sie mein Anliegen und meine Situation erfasst: Nämlich dass ich von weit herkomme und nur heute auf Besuch da sein kann, jedoch ein wichtiges Anliegen habe.
In diesem Moment überkommt es mich heftig und ich muss an dem von mir neu definierten Kindergrab hemmungslos weinen – im Beisein dieses mir völlig unbekannten Ehepaars. Es ist eine sehr berührende Situation, ein magischer Augenblick, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint. In meinem Familiensystem kann jetzt durch mich gerade etwas ins Fließen kommen und geheilt werden, was über 80 Jahre lang blockiert war. Ich habe aber gar nicht das Gefühl, dass ich dabei der aktiv Handelnde bin. Vielmehr geschieht etwas durch mich, das mir in diesem Augenblick völlig logisch, längst überfällig und konsequent erscheint, das ich weder verhindern, noch beeinflussen, noch beschleunigen kann, selbst wenn ich es wollte. Es geschieht völlig von alleine, alles scheint eine eigene innere Logik zu haben.
Ich komme mir wie ein Werkzeug des Universums vor, das nun gerade gebraucht wird, damit etwas längst Überfälliges, Notwendiges, Tiefes und Heilendes endlich stattfinden kann: eine echte, ehrliche Trauer um zwei kleine Kinder, um zwei meiner Onkel. Und um eine nachträgliche würdevollere Bestattung. Mein Herz ist sperrangelweit