Das Leben des Giacomo Casanova und seine frivolen erotischen Abenteuer - Teil 1. Giacomo CasanovaЧитать онлайн книгу.
sechs Wochen vor dem Tode meines Vaters. Ich teile es dem Leser nur mit, um ihm einen Begriff zu geben, in welcher Weise sich mein Charakter entwickelte.
Eines Tages, um die Mitte des Novembers, befand ich mich zusammen mit meinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Francesco im Zimmer meines Vaters und sah ihm aufmerksam bei seinen optischen Arbeiten zu.
Ein großes Stück Kristall, rund und in Facetten geschliffen, fesselte meine Aufmerksamkeit. Ich nahm es in die Hand, hielt es vor meine Augen und war wie bezaubert, als ich alle Gegenstände vervielfältigt sah. Sofort bekam ich Lust, mir diesen Kristall anzueignen, und da ich mich unbeachtet sah, so benutzte ich den Augenblick, ihn in die Tasche zu stecken. Gleich darauf stand mein Vater auf, um den Kristall zu benutzen; da er ihn nicht fand, sagte er zu uns, einer von uns beiden müsste ihn genommen haben. Mein Bruder versicherte ihm, er habe ihn nicht angerührt, und hierauf sagte ich trotz dem Bewusstsein meiner Schuld ihm dasselbe. Mein Vater war aber seiner Sache sicher und drohte uns, er würde unsere Taschen durchsuchen, und wer gelogen hätte, würde Prügel bekommen. Ich tat, als suchte ich den Kristall in allen Zimmerecken, und hierbei gelang es mir in einem günstigen Augenblick, das Ding geschickt meinem Bruder in die Rocktasche gleiten zu lassen. Dies tat mir sofort leid, denn ich hätte ja tun können, als hätte ich den Kristall irgendwo gefunden; aber die Schlechtigkeit war nun einmal begangen. Mein Vater wurde schließlich ungeduldig, als wir nichts fanden; er durchsuchte uns, entdeckte die verhängnisvolle Kugel in der Tasche des Unschuldigen und gab ihm die verheißene Tracht Prügel. Drei oder vier Jahre später war ich so dumm, mich meinem Bruder gegenüber dieses Streiches zu rühmen; er verzieh ihn mir niemals und versäumte keine Gelegenheit, sich dafür zu rächen.
Als ich in einer Generalbeichte mich dieser Sünde mit allen Nebenumständen anklagte, erhielt ich eine Belehrung, die mir Spaß machte. Mein Beichtvater, ein Jesuit, sagte mir, da ich Giacomo heiße, so hätte ich mit dieser Tat der Bedeutung meines Namens entsprechend gehandelt. Denn im Hebräischen bedeutet Jakob Verdränger. Deshalb gab Gott dem Patriarchen für seinen alten Namen den neuen Israel, das heißt: Der Sehende. Er hatte seinen Bruder Esau hintergangen.
Sechs Wochen nach diesem Vorfall bekam mein Vater im Innern des Kopfes ein Geschwür, das ihn binnen acht Tagen ins Grab brachte. Der Arzt Zambelli gab dem Kranken zunächst verstopfende Heilmittel und glaubte dann diese Dummheit mit der Verabreichung von Bibergeil wieder gutzumachen. Mein Vater starb infolgedessen an Krämpfen. Eine Minute nach seinem Tode barst das Geschwür und floss durchs Ohr ab; es entfernte sich, nachdem es ihn getötet hatte, wie wenn es nun nichts mehr bei ihm zu tun hätte.
Mein Vater schied im blühendsten Alter aus dem Leben; er zählte nur 36 Jahre. In sein Grab folgte ihm das Bedauern des Publikums, besonders des Adels, der in ihm einen Mann achtete, der sich durch seine Lebensführung wie durch seine Kenntnisse in der Mechanik über seinen Stand erhob.
Zwei Tage vor seinem Tode fühlte mein Vater sein Ende nahen; er ließ seine Frau und uns alle an sein Bett kommen und bat die edlen Herren Grimani, unsere Beschützer zu werden.
Nachdem er uns seinen Segen gegeben hatte, verlangte er von meiner in Tränen zerfließenden Mutter, dass sie ihm schwöre, keins von seinen Kindern für die Bühne zu erziehen, die er selber niemals würde betreten haben, wenn ihn nicht eine unglückliche Leidenschaft dazu gezwungen hätte. Sie tat den Schwur, und die drei Patrizier bürgten für dessen Unverletzlichkeit. Die Umstände halfen ihr, dieses Versprechen halten zu können.
Da meine Mutter damals im sechsten Monat schwanger war, wurde sie bis nach Ostern vom Auftreten befreit. Schön und jung wie sie war, schlug sie alle Heiratsanträge aus; auf die Vorsehung vertrauend, hoffte sie selber imstande zu sein, uns großzuziehen.
Zunächst glaubte sie sich mit mir beschäftigen zu sollen; nicht so sehr aus besonderer Vorliebe für mich als wegen meiner Krankheit, die mich in einen solchen Zustand versetzte, dass man nicht mehr wusste, was man mit mir anfangen sollte. Ich war sehr schwach, hatte keinen Appetit, war zu keiner Anstrengung fähig und sah aus wie ein Blödsinniger. Die Ärzte stritten sich um die Ursache meines Leidens. Er verliert, sagten sie, wöchentlich zwei Pfund Blut, während er doch im Ganzen nur sechzehn bis achtzehn haben kann. Woher kann also eine so überreichliche Abgabe von Blut kommen? Der eine sagte, mein ganzer Speisesaft verwandle sich in Blut, der andere behauptete, die von mir eingeatmete Luft müsse bei jedem Atemzuge die Menge des in meinen Lungen vorhandenen Blutes vermehren und darum hielte ich fortwährend den Mund offen. Dies wurde mir sechs Jahre später von Herrn Baffo, einem vertrauten Freunde meines seligen Vaters, erzählt.
Baffo konsultierte schließlich in Padua den berühmten Arzt Macopo, der ihm seine Meinung schriftlich mitteilte. In diesem Gutachten, das ich aufbewahrt habe, heißt es, unser Blut sei eine dehnbare Flüssigkeit, die an Dicke, niemals aber an Menge sich vermindern oder vermehren könne; meine Blutungen könnten nur davon herrühren, dass die Blutmenge zu dick sei. Sie mache sich auf natürlichem Wege Luft, um den Umlauf zu erleichtern. Er sagte, ich würde bereits gestorben sein, wenn nicht die Natur, die leben will, sich selber geholfen hätte. Er kam zu dem Schluss: Da die Ursache dieser Dicke nur in der von mir eingeatmeten Luft gesucht werden könne, so müsse man mir Luftveränderung verschaffen oder sich darauf gefasst machen, mich zu verlieren. Nach seiner Meinung war ferner an dem dummen Ausdruck, den meine Züge trugen, ebenfalls nur die Dicke meines Blutes schuld.
Dieser Herr Baffo, ein erhabener Geist und ein Poet, der sich nur in Gedichten der schlüpfrigsten Art versuchte, in dieser aber groß und einzig war – Baffo also veranlasste, dass meine Familie sich entschloss, mich nach Padua in Pension zu geben; folglich verdanke ich ihm mein Leben. Er ist zwanzig Jahre später gestorben, der letzte seiner alten patrizischen Familie; aber seine Gedichte, sind sie gleich schmutzig, werden seinen Namen niemals untergehen lassen. Die venezianischen Staatsinquisitoren werden aus einer gewissen Pietät zu seinem Ruhme beigetragen haben; denn indem sie seine in Abschriften umlaufenden Werke verfolgten, machten sie sie kostbar; sie hätten wissen müssen, dass spreta exolescunt – was nicht beachtet wird, fällt der Vergessenheit anheim.
Sobald der Orakelspruch des Professors Macopo als zutreffend erachtet war, übernahm es Herr Abbate Grimani, mit Hilfe eines in Padua wohnenden ihm bekannten Chemikers, für mich eine gute Pension zu finden. Er hieß Ottaviani und war zugleich auch Antiquar. In ein paar Tagen war die Pension gefunden und an meinem neunten Geburtstag, den 2. April 1734 brachte man mich in einem Burchiello auf dem Brentakanal nach Padua.
Der Burchiello kann für ein kleines schwimmendes Haus gelten. Es befindet sich darauf ein Saal mit einem Kabinett am oberen und unteren Ende, und für die Dienerschaft ist Unterkunft am Bug und am Stern des Fahrzeugs vorhanden; die Form des Saales ist ein Rechteck; er ist mit Glasfenstern und Holzläden versehen, und darüber befindet sich noch ein Sitzdeck. Die Dauer der Reise beträgt acht Stunden. Abbate Grimani, Herr Baffo und meine Mutter begleiteten mich; ich schlief mit meiner Mutter im Saal und die beiden Freunde verbrachten die Nacht in einem der beiden Kabinette. Mit Tagesanbruch stand meine Mutter auf und öffnete ein Fenster gegenüber dem Bett; die Strahlen der aufgehenden Sonne trafen mein Gesicht, so dass ich die Augen aufschlug. Das Bett war so niedrig, dass ich das Land nicht sehen konnte; ich sah durch das Fenster nur die Wipfel der Bäume, die den Fluss umsäumen. Die Barke bewegte sich, aber so gleichmäßig und ruhig, dass ich davon nichts merkte; es überraschte mich daher aufs höchste, dass ein Baum nach dem anderen meinen Blicken entschwand. „O, liebe Mutter!“ rief ich, „was ist denn das? Die Bäume laufen ja!“ Im selben Augenblick traten die beiden Herren ein und fragten mich, als sie mein verdutztes Gesicht sahen, woran ich denn dächte. „Woher kommt es“, wiederholte ich, „dass die Bäume laufen?“
Sie lachten; meine Mutter aber stieß einen Seufzer aus und sagte ganz traurig: „Das Schiff bewegt sich, und nicht die Bäume. Zieh dich an!“ Ich begriff, dank meiner erwachenden, sich immer mehr entwickelnden und noch gar nicht voreingenommenen Vernunft sofort den Grund der Erscheinung. „Dann ist es also möglich“, sagte ich zu meiner Mutter, „dass auch die Sonne sich nicht bewegt, und dass im Gegenteil unsere Erde von Westen nach Osten rollt.“ Meine gute Mutter entsetzte sich über diesen Unsinn, Herr Grimani beklagte meine Dummheit, und ich stand da ganz verdutzt, traurig und dem Weinen nahe.