Alles in Blut. Ole R. BörgdahlЧитать онлайн книгу.
Bruckner legte zwei Kaffeepads in die Senseo ein, startete die Maschine und drehte sich zu mir um.
»Über unser ViCLAS bekommen Sie alles, jeden Scheißverkehrsunfall, jeden Taschendiebstahl, der zur Anzeige gebracht wurde oder bei dem eben die Polizei eingeschaltet wurde. Das liegt daran, dass wir ViCLAS jetzt mit der CRIME-Datenbank verknüpft haben. Da muss man aufpassen, wie man die Suchparameter setzt, ansonsten wird man mit Fällen überschüttet.«
»Also, das ist doch nicht das Prinzip von ViCLAS, nicht so, wie ich es kenne. ViCLAS steht für Gewaltverbrechen, Mord, Totschlag, Mordversuch, Vergewaltigung, Körperverletzung und so weiter.«
Bruckner zuckte mit den Schultern. »Unser ViCLAS ist über Schnittstellen zu anderen Datenbanken verknüpft worden und dazu gehört eben nicht nur CRIME. Die Schnittstellen gleichen alle vierundzwanzig Stunden die Register ab.«
Ich schaute auf den Computermonitor. Ein Balken in der Maske zeigte den Suchfortschritt an, der erst bei sieben Prozent lag. Eine Minute später war der Kaffee fertig und der Balken lag bei neunundzwanzig Prozent.
»Wollen Sie Milch und Zucker?«, fragte Bruckner.
Ich erhob mich und ging zu ihm. »Habe ich immer noch nicht hier, weder Milch noch Zucker. Warum sind Verkehrsdelikte in ViCLAS? Warum hat man die nicht wenigstens rausgelassen?«
»Ganz einfach«, erklärte Bruckner, »um die ViCLAS-relevanten Verbrechen zu erfassen, musste man ursprünglich fast dreihundert Fragen beantworten. Das hat Anfangs sehr lange gedauert, und weil man die Auswertemöglichkeiten zeigen wollte, kam jemand auf die Idee, irgendwelche Daten maschinell einzulesen.«
Ich nickte, obwohl ich eigentlich den Kopf schütteln wollte. Wir gingen beide zurück zum Tisch und setzten uns. Mein Blick fiel sofort wieder auf den Balken, dreiundsechzig Prozent. Zehn Minuten später war es endlich geschafft. Die Ergebnisliste kündigte 9.654 Treffer an.
»Wollen Sie die Liste behalten?«, fragte Bruckner.
Ich antwortete nicht und er klickte sofort auf Löschen. Dann begann er selbst, die Suchfelder auszufüllen. Ich sah ihm dabei zu. Den Stadtteil nahm er heraus und trug dafür ganz Hamburg als Stadt ein. Über ein weiteres Feld konnte ein Umkreisradius festgelegt werden. Bruckner trug dreihundert Kilometer ein. Bei der Verbrechensart legte er die Auswahl auf Todesopfer und Schwere Körperverletzung fest. Die Angaben zur Täter-Opfer-Beziehung ließ er offen.
»Wenn wir hier angeben, dass es keine Beziehung zwischen Opfer und Täter gab, dann schränken wir das Ergebnis zu sehr ein.« Bruckner sah mich an. »Die meisten Tötungsdelikte sind und bleiben Beziehungstaten.«
Ich nickte. »Das ist in den Staaten nicht anders.«
Bruckner füllte die Suchmaske weiter aus. Verletzungen beim Opfer und Todesursache: keine Angaben. Vorgehensweise bei der Tatbegehung: keine Angaben. Art der verwendeten Waffen und Gegenstände: keine Angaben. Er sah mich wieder an.
»Wir können die Angaben noch konkretisieren, zum Beispiel Herzinfarkt als Todesursache vorgeben.«
»Das ist schon gut, erst einmal keine Todesursache. Ich möchte sehen, wer hier wie gestorben ist.«
Bruckner überlegte noch einmal. »Moment, ich lasse das Ergebnis kategorisieren.«
»Was heißt das?«
»Morde werden unter Morden und Körperverletzungen unter Körperverletzungen zusammengefasst und in der Trefferliste separat dargestellt.«
Das hatte ich verstanden und nickte. Bruckner löste die Suche aus. Wieder erschien der Balken, der aber schnell anwuchs, zwanzig Prozent, vierzig, siebzig Prozent und in weniger als einer Minute auf hundert Prozent ging. Es gab aber immer noch 1.486 Treffer. Bruckner reagierte sofort. Er speicherte das Ergebnis und nahm für eine zweite Suche den Umgebungswert heraus, sodass sich die Recherche auf das Stadtgebiet von Hamburg beschränkte. Es blieb bei einer Minute Laufzeit, die Treffer reduzierten sich aber auf fünfhunderteinundachtzig.
»Soll ich noch auf Bezirk oder Stadtteil gehen?«
»Nein, lassen Sie erst einmal sehen.«
Bruckner speicherte die Liste und öffnete sie dann in einem zweiten Fenster.
»Das ist jetzt wie ein Verzeichnisbaum«, erklärte er. »Auf der obersten Ebene stehen die Delikte, darunter die Rubriken mit bekanntem und unbekanntem Täter, oder eben ohne Täter, wenn es ein Unfall mit Todesfolge ohne Fremdverschulden war.«
Bruckner öffnete die Ordner, klickte sich auf die dritte Ebene durch, um mir das Prinzip zu zeigen.
»Bei fast sechshundert Treffern sollten wir zunächst Stichproben machen«, schlug ich vor.
»Was wollen Sie sehen?«
»Die Morde!«
Bruckner öffnete einen Ordner. »Klingt fast harmlos: Tod durch Fremdverschulden.«
»Sind das die Morde?«
»Mal sehen!«
Eine weitere Liste erschien auf dem Monitor. Vor jedem Eintrag stand eine siebenstellige Nummer. Bruckner studierte die Treffer, scrollte die Liste weiter nach unten.
»Die letzten drei Ziffern identifizieren den Tatbestand«, erklärte er und scrollte weiter. »Hier geht es los, 303 steht für Mord.«
Ich zählte mit einem Blick, es waren vier Zeilen. »Ist das alles?«, fragte ich. »Ein bisschen wenig für Hamburg, oder.«
Bruckner stutzte. »Verdammt, wir haben den Zeitraum gar nicht eingegrenzt. Die Voreinstellung liegt bei drei Monaten.«
»Also vier Morde in Hamburg in den letzten drei Monaten. Dafür ist aber wieder die Gesamtzahl der Todesfälle recht hoch. Sechshundert gewaltsame Todesfälle in drei Monaten. Ist das wirklich so viel?«
Bruckner war jetzt doch verunsichert. Er überlegte, klickte sich in den Listen und Ordnern zurück auf die Eingabemaske des ViCLAS und überprüfte die eingestellten Parameter. Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und sah auf die Uhr. Es war mittlerweile halb zehn. Bruckner spürte, was ich dachte. Er wandte sich zu mir um.
»Wie sieht es mit Ihrer Zeit aus?«
Es sah natürlich nicht so gut aus. Ich bemühte den Kalender auf meinem Smartphone. Frau Sievers hatte mir vorhin doch noch einen Termin übermittelt. In einer Stunde sollte ich mir ein neues Objekt ansehen. Ein älteres Ehepaar plante den Umzug vom Reihenhaus in eine Stadtwohnung, wir sollten den Verkauf der alten Immobilie und den Erwerb der Neuen managen. Alte Leute haben Zeit, dachte ich. Die Telefonnummer stand bei der Adresse, zu der ich kommen sollte. Ich brauchte zwei Minuten, um den Termin auf den Nachmittag zu verschieben. Bruckner wollte gerade etwas sagen, aber ich hatte das Telefon schon wieder am Ohr.
»Ich bin’s. Wir haben vielleicht einen Interessenten für die Studentenbude ... Nein, ich bin schon vor Ort, ich warte hier ... Nein ich schaffe es natürlich nicht bis zehn ins Büro ... Ja, habe ich schon angerufen, wir haben es auf den Nachmittag verschoben ... Mit Dr. Wegner um drei? Nein, verschieben Sie es bitte auf halb vier ... Ja, danke.«
Ein bisschen Flunkerei ist ja wohl erlaubt, dachte ich mir. Als ich mich wieder umdrehte, sah mich Bruckner interessiert an.
»Das geht ja schnell bei Ihnen.«
»Denken Sie nicht, ich würde alle meine Termine so machen. Wenn es wirklich wichtige Sachen gewesen wären, hätten wir hier jetzt abgebrochen.«
»Gut zu wissen, dann sollten wir die Zeit nutzen. Welchen Zeitraum soll ich einstellen?«
»Der Tote wurde vor acht Jahren gefunden. Geben wir noch fünf Jahre drauf.«
»ViCLAS hat aber nur einen Horizont von zehn Jahren«, klärte Bruckner mich auf.
»Gut, dann nutzen Sie aber den ganzen Zeitraum aus.«
Bruckner füllte die Suchmaske neu aus. »Den Start setze ich auf den 1. Oktober 2001, sonst lasse ich alle Parameter gleich.«
Zehn