Alles in Blut. Ole R. BörgdahlЧитать онлайн книгу.
sah wieder in den Bericht. Er hatte die betreffende Stelle schnell gefunden, las sie sich durch und schüttelte dann den Kopf.
»Nichts weiter. Impfnarben. Der Pathologe hat nur geschrieben, dass an beiden Oberarmen Impfnarben vorhanden sind.«
Bruckner hielt mir die entsprechende Seite hin. Ich schaute nicht drauf, sondern tippte auf die Fotos, die vor uns auf dem Tisch lagen.
»Also, bei einer Impfung mit einer ganz normalen Spritze können sie natürlich nicht mehr sehen, dass überhaupt an der betereffenden Stelle geimpft wurde. Ganz anders ist es, wenn man eine Impfpistole verwendet. Sie wissen, was das ist?«
»Natürlich«, sagte Bruckner ungeduldig. »In der Massentierhaltung wird so geimpft, glaube ich, weil es schnell gehen muss und es ja meist sehr viele Tiere sind.«
»Das haben Sie jetzt gesagt.«
»Was habe ich gesagt?«, fragte Bruckner.
»Das mit den Tieren, denn so was wurde früher auch bei Menschen gemacht, eine Massenimpfung und dabei sind eben Impfpistolen zum Einsatz gekommen.«
»Und was ist so Besonderes daran, dass unser Toter anscheinend an einer Massenimpfung teilgenommen hat?«
»An sich ist das nichts Besonderes, nur ist es in Europa oder besser gesagt in der westlichen Welt seit den Fünfzigerjahren nicht mehr üblich gewesen, Impfpistolen einzusetzen, weil es unter anderem diese hässlichen Narben gab. Der Impfstoff wurde nämlich mit Hochdruck durch die Haut injiziert. Die Kontaktpunkte haben sich sehr oft entzündet. In der Sowjetunion hatte man anscheinend nicht so große Probleme damit und hat erst Ende der Siebzigerjahre mit den Impfpistolen aufgehört. Unser Mann ist nicht älter als fünfundvierzig, hat also in den Fünfzigerjahren noch gar nicht gelebt. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr hoch, dass er sich die Impfnarben in einem Mitgliedsstaat der ehemaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken geholt hat. Wurde in diese Richtung ermittelt?«
Bruckner schüttelte erneut den Kopf. »Ich glaube nicht, dass in diese Richtung ermittelt wurde.« Er überlegte. »An Ihrer Annahme könnte natürlich etwas dran sein, aber ich finde es trotzdem weit hergeholt.«
»Warum wurden die Impfnarben nicht weiter untersucht? Es ist doch nicht ungewöhnlich, dass sich ein Ost-Europäer in Hamburg oder Deutschland aufhält?«
»Woher wissen Sie das überhaupt alles, mit den Impfnarben meine ich, oder mit der Sowjetunion.« Bruckner hatte eine der Fotografien vom Tisch genommen und betrachtete sie sich jetzt noch einmal genauer. Dann sah er mich an.
»Kalter Krieg«, antwortete ich. »In den USA lernt man eine Menge über Menschen, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, auch wenn der Kalte Krieg schon sehr lange vorüber ist. Ich habe schon Hunderte Bilder von solchen Impfnarben gesehen. Sie sind ein wichtiges Merkmal zur Identifikationseingrenzung, zumindest in den Staaten.«
»Ich denke, der Pathologe wird sich auch seine Gedanken gemacht haben«, sagte Bruckner, nachdem er kurz über meine Worte nachgedacht hatte. »Wir können ja jetzt nicht die ganze Obduktion anzweifeln und wir können sie schon gar nicht wiederholen.«
»Sie wollten etwas von mir hören, ich habe Ihnen etwas gesagt, mehr kann ich leider im Moment nicht erkennen.«
»Im Moment?«, fragte Bruckner.
»Ja, wenn Sie auf meine Zusammenarbeit Wert legen, dann würde ich mir alles noch einmal in Ruhe ansehen wollen, also, das biete ich Ihnen zumindest an.«
Bruckner schien unschlüssig zu sein. »Eine zündende Idee hat man entweder sofort, oder gar nicht, das ist doch so ein Prinzip, oder?«
»Das mag jetzt vielleicht ungewöhnlich klingen«, antwortete ich, »aber wenn Sie eine Fülle von Spuren gehabt hätten, dann hätte ich genau dieses Prinzip unterstrichen. Bei sehr vielen Spuren wird man blind für das Wesentliche, wenn man zu lange darauf schaut.«
»Aber wir haben eigentlich überhaupt keine Spuren«, warf Bruckner ein.
»Eben, das ist es. Vielleicht versteckt sich ja noch irgendwas in dem Bericht oder auch in den Fotografien.«
»Außer den Impfnarben meinen Sie?«
Ich zuckte mit den Schultern. Bruckner lächelte. Er holte eine Visitenkarte und einen Kugelschreiber hervor und notierte eine Nummer auf die Rückseite der Karte.
»Sie rufen mich zurück, wenn ich die Sachen wieder abholen kann.«
Ich nahm die Visitenkarte und sah mir die Telefonnummer auf der Rückseite an. »Ihr privates Mobile?«
»Mobile?« Bruckner lachte. »Ach, stimmt, wir blöden Deutschen sagen ja Handy dazu. Das werden wir auch nicht mehr aus uns rauskriegen.« Bruckner holte sein Telefon hervor. »Habe ich erst neu gekauft, bin noch nicht ganz so vertraut mit dem Gerät. Hat sogar GPS und Internet. Normale Telefone sind diese Dinger ja schon gar nicht mehr.«
»Ich habe auch so eins, nur größer.«
Bruckner lächelte und ich verstand im ersten Augenblick nicht warum. Ich zog mein Gerät ebenfalls aus der Jacketttasche.
»Ist tatsächlich größer«, kommentierte Bruckner.
»Ich benutze es sehr viel, nicht nur zum Telefonieren. Da braucht man die Displaygröße, damit es nicht so schnell anstrengend wird.«
»Ich verstehe«, sagte Bruckner nickend. »Benutzen Sie auch den Kalender?«
»Natürlich, das Wichtigste überhaupt«, bestätigte ich ihm.
»Das müssen Sie mir irgendwann mal zeigen, da gibt es doch spezielle Kalender aus dem Internet, die man sich herunterladen kann.«
»Sie meinen Kalender-Apps, da gibt es sicherlich viele.«
»Ja, ich weiß noch nicht einmal, wie man das aufs Telefon bekommt.« Bruckner lächelte. »Wie gesagt, bei Gelegenheit mal.«
»Gut! Zeige ich Ihnen gerne, bei Gelegenheit. Aber jetzt noch einmal zum Telefonieren. Wenn Sie den Wunsch verspüren, mit mir Kontakt aufzunehmen, dann würde es mir besser passen, wenn Sie direkt auf meinem Mobile anrufen. Haben Sie noch meine Karte?«
»Selbstverständlich!« Bruckner holte sie mit einem Griff aus seiner Hemdtasche.
»Sie können meine Büronummer eigentlich durchstreichen. Das führt in unserem Sekretariat nur zu Verwirrung, wenn die Polizei dort anruft. Also benutzen Sie bitte nur meine Mobilenummer. Sie können mir natürlich auch eine SMS schicken.«
»Gut, so mache ich es, nur übers, wie sagten Sie, übers Mobile.«
Ich stand aus meinem Sessel auf. Bruckner erhob sich ebenfalls. Den Spurensicherungsbericht und die Fotografien hatte er einfach auf dem Tisch liegen gelassen.
»Aber zunächst höre ich ja von Ihnen, wenn Sie noch etwas finden.« Er blickte kurz zum Tisch. »Aber bis Montag müsste ich die Sachen zurückbekommen.«
»Sie glauben nicht, dass ich Ihnen noch helfen kann?«, fragte ich ganz bewusst.
Bruckner überlegte. »Doch, doch, Sie haben mir schon geholfen. Ich kann vor meinem Chef jetzt besser einschätzen, ob es überhaupt etwas bringt, den Fall noch einmal aufzurollen.« Er zögerte kurz. »Und das mit den Impfnarben lasse ich mir auch noch einmal durch den Kopf gehen.«
Er reichte mir die Hand und eine Minute später war ich alleine in meiner Studentenbude. Ich kochte noch einen Kaffee, trank eine halbe Tasse und streckte mich dann auf dem Futonbett aus. Ich musste nachdenken und ließ mich auch nicht durch das Telefon ablenken, das beharrlich klingelte.
Freitag, 4. November 2011
Ich bin dann doch ans Telefon gegangen, und das hatte eine Menge Arbeit nach sich gezogen. Was macht ein Immobilienmakler den ganzen Tag? Die meiste Zeit unterhält er sich mit Menschen, die dann doch keine Wohnung mieten oder ein Haus kaufen, oder die zu einem anderen Makler gehen, der