Die Schule auf dem Baum. Gunter PreußЧитать онлайн книгу.
zwischen uns wächst wieder. Ich will das nicht.
Ich sage: "Sagen Sie jetzt nichts. Ich bitte Sie."
Sie antwortet: "Das geht so nicht. Auch wenn ich es wollte. Sie wissen es selbst."
Irgendetwas zerbricht zwischen meinen Händen. Ich taumle in einen Nebel hinein.
Frau Wendisch ruft: "Beruhigen Sie sich. Bitte beruhigen Sie sich. - Es hat keinen Sinn, sich so aufzuregen. Sind Sie – sind Sie wieder in Ordnung?"
"Ja", sage ich, zurückgekehrt in diese Dingewelt. "In Ordnung."
Frau Wendisch sagt: "Für nächste Woche hat sich der Schulrat angesagt. Was ist, wenn der Junge dann auf dem Baum sitzt?"
"Das kommt in Ordnung", sage ich. Wir haben einen Moment lang geträumt. Was wohl? Aber Lehrer sind keine Träumer. Sie sind Realisten. "Ich bringe das in Ordnung."
Ich spreche zu Hans Schorn. Wieder und wieder. Er schweigt. Manchmal sieht er mich kurz an. Dann schreie ich: "Was denkst du dir eigentlich?" Sein Gesicht erinnert nicht mehr an das eines Mädchens. Es ist das eines Jungen geworden. Was passiert denn da, wovon ich nichts weiß?
Ich bitte ihn. Ich drohe ihm. "Du must vom Baum herunter."
Ich spreche mit Hans Schorns Eltern. Ich spreche mit ihnen über dieses und jenes, über alles. Nur nicht darüber, dass ihr Sohn auf dem Baum sitzt. Sie könnten mir dazu nichts sagen. Beide sind praktische Menschen, den Kopf voller Alltagssorgen.
Ich sehe zu, wie ein paar ältere Schüler Hans Schorn verprügeln. Ich bin gegen Gewalt, und doch steckt sie in mir wie in jedem Menschen. Unbegreifliches hatte starke Anziehungskraft, es macht zuerst neugierig und bald aggressiv. Hans Schorns Gesicht ist blutverschmiert. Ein Clownsgesicht.
Horst Rappke und Christa Mällmann küssen sich auf dem Schulhof. Vor Hans Schorns Augen. Betritt Christa Mällmann den Schulhof, sucht ihr Blick Hans Schorn. Sie rümpft die Nase. Sie kämmt sich mit weichen, ausholenden Bewegungen.
Fast jeden Tag sitzt der Junge auf dem Baum. Minuten. Oder gar Stunden.
Die junge Direktorin geht mir aus dem Weg. Und ich ihr. Einmal stoßen wir im Flur zusammen. Es ist, als hätten wir einander gesucht. Wir entschuldigen uns. Und laufen voreinander weg.
Der Tag, an dem der Schulrat kommt, rückt naher. Unaufhaltsam. Hans Schorn sitzt auf der alten Kastanie.
Mitten in meinem Unterricht springen Schüler auf und rennen zu den Fenstern. Die Mädchen müssen auf die Toilette. Es wird getuschelt. Zettelchen werden hin- und hergereicht.
Die Schüler, die nach draußen gegangen sind, kommen nicht ins Klassenzimmer zurück. Türen knallen. Auf dem Flur hallen Schritte. Einer ruft nach dem anderen. Die Lehrer lassen ihre Kommandostimmen erklingen.
Hans Schorn sitzt auf der alten Kastanie. Jeden Augenblick muss der Schulrat eintreffen. Nach neuesten Meldungen mit einer Gruppe ausländischer Lehrer. Sie wollen die neue Schule sehen. Ein Modell für kommende Schulen.
In der zweiten Stunde findet kein Unterricht mehr statt. Lehrer und Schüler haben sich auf dem Schulhof versammelt. Außer der Direktorin und mir steht keiner allein. Wir blicken zur Krone der alten Kastanie. Die Sonne sticht schon. Die Blätter rascheln. Sie knistern. Hier und da blitzt es schon rot und gelb auf im Grün. Als wollte sich ein Feuer entzünden.
Frau Wendisch steht am Schultor. Jetzt erscheint sie mir besonders schmal und klein, und zum ersten Mal empfinde ich sie kindhaft zerbrechlich. Ihr Gesicht ist bleich. Die schwarzen Augenbrauen und die dunkelroten Lippen wirken wie aufgeklebt. Sie hat vergangene Nacht nicht geschlafen. Ich bin durch meinen Garten gelaufen. Am Zaun entlang. Nicht wegen des Schulrates. Ich kenne den Mann nicht. Ich fürchte sein Urteil nicht. In meinem Alter bin ich außerhalb seiner Bewertung.
Langsam löse ich mich von den anderen. Schließlich reiße ich mich los. Ich gehe zur alten Kastanie. Ich versuche, sie zu ersteigen. Die Schuhe finden in den Einschusslöchern keinen Halt. Ich ziehe die Schuhe aus. Die Strümpfe. Etwa eineinhalb Meter komme ich vom Erdboden weg. Dann fehlt mir die Kraft. Hände und Füße verkrampfen. Ich falle.
Wieder versuche ich, den Baum hochzukommen. Die Erde will mich nicht loslassen. Sie zieht mich immer wieder zurück. Ich falle hart. Noch habe ich mir nichts gebrochen.
Zwei Schüler kommen mit einer Leiter. Es sind Horst Rappke und Christa Mällmann. Sie lehnen die Leiter an den Stamm. Dann treten sie zurück.
Ich ersteige die Leiter, Sprosse um Sprosse.
Ich steige. Höher und höher. Mein Atem geht schnell. Ich spüre ihn. In der Brust. Im Kopf. Im Bauch. In den Armen. In den Beinen. Mein Atem trägt mich nach oben.
Es wird dämmrig. Gründämmrig. Blätter streifen mich. Ihre Oberseiten sind rau. Ihre Unterseiten sind weich. Kinderhände. Sie streifen meine Stirn. Meine Ohren. Meine Wangen. Meinen Mund.
Die Leiter reicht nicht höher. Ich bin jetzt in der Baumkrone. Umgeben von Ästen. Von Zweigen. Von tausenden Blättern.
"Hans Schorn", rufe ich. "Hans!"
Ich warte auf Antwort. Und dann kommt sie. Von oben. "Hier bin ich."
"Gut", sage ich.
Ich klettere. Von Ast zu Ast. Das dauert. Ich bin steif. Hände und Füße sind unsicher. Aber ich will da hinauf. Habe ich das nicht schon einmal erlebt? Mir ist, als sei das Jahrtausende her. Jahrhunderte. Jahrzehnte. Nun ist es Wirklichkeit.
Je höher ich steige, umso heller wird es. Und ich werde leichter. Als hätte ich Wind unter die Arme bekommen.
Jetzt sehe ich Hans Schorn über mir. Wieder atme ich tief durch. Dann hangle ich mich auf gleiche Höhe mit dem Jungen. Der Ast wippt. Ich kämpfe um mein Gleichgewicht. Noch einmal kommt Angst auf. Da höre ich den Jungen. "Einfach mitwippen", sagt er. "Sie können gar nicht fallen".
Ich vertraue mich den Bewegungen des Baumes an. Nun sitze ich sicherer.
Ich "öffne die Augen. Sie gewöhnen sich schnell an die Helligkeit. Ich sitze so hoch, dass der Baum mir den Blick frei gibt. Ich sehe aus der Vogelperspektive. über die Schule hinaus. Über einen Teil der Stadt. Nach Süden hin kann ich in die zerrissene Landschaft des Tagebaus sehen.
Ich lasse meine Blicke wandern. Sie überschreiten Ländergrenzen. Sie gehen über Meere. Wechseln die Kontinente. Wollte ich als Junge nicht unbedingt in die Gegend des Himalajas? In die Heimat des Grüns und des Schnees? Ich sehe die weiten Täler. Den tropischen Regenwald. Affen sehe ich. Elefanten. Tiger. Und dort wuchert der Rhododendron. Ein Meer aus weißen Blüten. Und höher hinauf geht es. Immer höher. Hinauf in das höchste Gebirge der Erde. Hinein in die Welt der Achttausender. Für einen Augenblick lichtet sich der Nebel. Ich sehe den Gipfel des Mount Everest. Ich blicke in ein Blau, wie ich es nie gesehen habe. Es ist bitter kalt. Strahlend warm. Ohne eine Spur Licht. So hell, dass es schmerzt.
Hans lacht. Zum ersten Mal höre ich ihn lachen. Er ist neben mir. Und er war eben mit mir auf dem Himalaja. Auch ich lache. Der Schüler Hans Schorn und der Lehrer Walter Hausmann lachen. Wir sitzen auf der alten Kastanie und lachen.
Es ist, als wäre Sturm in den Baum gekommen. Frau Wendisch sitzt neben uns. Nicht weit entfernt wippt Christa Mällmann auf einem Ast. Neben ihr sitzt Horst Rappke. Mädchen und Jungen sitzen auf den Ästen. Auch Lehrer. Der Hausmeister. Der Baum schaukelt. Es wird gelacht. Gelacht.
Auf dem Schulhof steht der Schulrat. Und die ausländischen Kollegen. All die Leute von der Straße. Sie stehen. Die Köpfe im Nacken. Die Blicke auf die Krone des Baumes gerichtet. Die Münder geöffnet. Und einer nach dem anderen macht sich daran, auf die alte Kastanie zu klettern.
Zeit ist vergangen. Tage. Wochen. Die neue Schule hat in den alten Rhythmus gefunden. Es ist, als sei nichts passiert. Als hätte es diesen Tag nicht gegeben. Diese Stunde des Baumes. So nenne ich sie.
Die junge Direktorin begegnet mir nicht mehr. Manchmal sehe ich sie von weitem. Sie errötet und geht eilig weg.
Christa Mällmann hat nur noch Augen für einen jungen