Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1. Carl WilckensЧитать онлайн книгу.
sagte Amrei, als hätte sie erraten, was in mir vorging.
»Ach ja? Wie funktionieren sie? Trägst du sie deinem Spiegelbild einfach vor?«
»Ich spiele sie der Norn vor«, erwiderte Amrei. »Auf meiner Geige.«
»Ich wusste nicht, dass man dunkle Runen auch vorspielen kann«, bemerkte ich.
»Ich wusste nicht, dass überhaupt sowas wie dunkle Runen existieren«, hielt Jasper dagegen. »Kann vielleicht mal einer erklären, wovon ihr redet? Was ist eine Norn? Was sind dunkle Runen?« Mit knappen Worten berichtete ich ihm und Rocío, was ich aus Norins Memoiren darüber erfahren hatte. Ich hatte kaum geendet, als wir die Tür zu Waterstones Wohnung ins Schloss fallen hörten. Sekunden später betrat der Professor das Wohnzimmer gefolgt von Miel: ein kugelrunder Student mit wabbelndem, mehrfachem Kinn und kurzem, blondem Haar.
Du bist, was du isst, hatte Martin, Koch auf der Swimming Island, oft gesagt, und er hatte Recht. Miel sah aus wie seine Leibspeise: ein Honigkuchen.
Waterstones Blick fiel auf den jüngst eingetroffenen Gast in seinem Haus, und er erstarrte.
»Wer ist das?«, fragte er mit der Miene eines Vaters, der seine Kinder dabei erwischt hatte, wie sie etwas Unartiges taten, und eine Erklärung verlangte. »Noch jemand von außerhalb des Universitätsviertels, den ich in meinem Haus verstecken muss?«
»Sozusagen«, bestätigte ich. »Ihr Name ist Amrei.«
»Nein!«, sagte Waterstone und schüttelte vehement den Kopf. »Tut mir leid, aber das ist zu viel. Ich kann euch nicht alle durchfüttern. Ganz zu schweigen davon, was mir bevorsteht, wenn jemand herausfindet, dass ich an der Zahl drei Menschen von außerhalb hier Zuflucht gewähre. Nein! Sie muss gehen.«
»Wie du meinst«, entgegnete ich und zuckte scheinbar gleichgültig die Schultern. Jasper warf mir einen überraschten Blick zu. »Übrigens: Ein weiterer Enerphag wie Nikandros ist in Treedsgow.«
Meine Worte wischten die Wut aus Waterstones Miene. »Wie bitte?«
Wieder zuckte ich die Achseln. »Ja. Vermutlich ist er noch ein wenig gefährlicher.«
»Sie!«, meldete sich Amrei zu Wort. »Es ist ein weiblicher Enerphag.« Die Vorstellung, dass es Geschlechter unter solchen Wesen gab, war befremdlich. Als Nikandros uns in der Gestalt eines ungeschlachten Monsters mit stachelbewährtem Gemächte begegnet war, hatte ich mich schon gefragt, ob das gute Stück wohl zum Einsatz käme.
»Amrei weiß nebenbei, wie man ihr beikommt«, fuhr ich fort. »Aber wenn du darauf bestehst, dass sie geht …«
»Wir wissen auch, wie man mit den Enerphagen fertig wird«, hielt Waterstone dagegen. »Wir haben auch Nikandros geschafft, oder?«
»Indem wir mich mit synaígischer Energie geladen haben«, sagte ich und nickte. Ich vermutete, dass die Aura meiner Machete, die dutzenden Menschen das Leben genommen hatte, in Kombination mit der synaígischen Energie tödliche Wirkung gezeigt hatte. »Da wusste ich aber nicht, dass es sich bei dieser Energie um ein Bewusstsein handelt. Ich werde das Risiko nicht noch einmal eingehen, dass sie sich meiner bemächtigt.«
Waterstone knirschte mit den Zähnen. »Woher weiß ich, dass sie uns wirklich helfen kann?«, fragte er und nickte zu Amrei.
»Du hast mein Wort als Ehrenmann«, entgegnete ich in einem Anflug von Ironie. Waterstone schwieg.
»Was ist ein Enerphag?«, fragte Miel nach einigen stillen Sekunden und begegnete der Reihe nach unseren Blicken. Ich zögerte. Wie erklärte man jemandem, der einer Wesenheit wie Nikandros nie begegnet war, dass in einer anderen Welt intelligentes Leben existierte, das nicht auf Materie, sondern auf dunklem Mana basierte?
»Das ist ziemlich kompliziert«, sagte ich und kratzte mich am Nacken. »Um nicht zu sagen, unglaublich.«
»Auf gewisse Weise das Mitglied einer Sekte«, sprang Jasper mir bei. »Ziemlich gefährliche Typen.«
»Gefährlicher als Damon, der Banditenanführer?«, fragte Miel ungläubig.
»Viel gefährlicher«, bestätigte ich.
»Hier in Treedsgow?«
»Ja.«
»Aber sie wird mit ihnen fertig?« Der dicke Student deutete auf Amrei.
Ich nickte, und ehe Miel mich mit einer weiteren Frage in noch größere Erklärungsnot bringen konnte, fügte ich hinzu: »Vielleicht stoßen wir auch in der Bibliothek von Ad Etupiae auf etwas, das uns gegen sie hilft. Bauanleitungen für synaígische Waffen oder ähnliches.« Mein Revolver hatte mir stets gute Dienste geleistet, aber zu einer Synaígo-Impuls-Repetierkanone würde ich nicht nein sagen.
»Bibliothek von Ad Etupiae?«, fragte Miel.
»Hab Geduld«, erwiderte ich. »Besser, du siehst es mit eigenen Augen.« An Waterstone gewandt fuhr ich fort: »Uns steht eine Menge Arbeit bevor. Was hältst du davon, wenn wir noch mehr Leute einweihen?«
Waterstone zögerte. »Es wäre mir unlieb, wenn mein Kollegium von der Bibliothek erführe. Wie du gesagt hast: Vielleicht enthält sie Informationen über Waffen. Die sollten gerade in Zeiten des Krieges nicht in falsche Hände geraten.« Ich pflichtete Waterstone stumm bei. Allen voran war da Hicks, Professor für Geotechnologie, der Waterstone und dessen unorthodoxe Methoden am liebsten vor die Mauer des Universitätsviertel gesetzt hätte. Vielleicht lag meine Einschätzung seiner Person darin begründet, dass seine offene Abneigung gegen mich und Waterstone ihm nicht gerade Sympathiepunkte einbrachte. Ich zweifelte jedenfalls nicht daran, dass er versuchen würde, das Projekt in seine Hände zu nehmen, um den Ruhm einzuheimsen und das in der Bibliothek verborgene Wissen an die Industrie zu verkaufen.
Außerdem war da noch Schwarzberg: der ehemalige Anstaltsleiter von Sankt Laplace, von dessen kranken Experimenten an Patienten und makabrer Sammlung menschlicher Augen ich Zeuge geworden war.
»Der Einzige, der in Frage käme, wäre Professor Bennett«, meinte Waterstone.
»Ich dachte weniger an jemanden aus deinem Kollegium, sondern an weitere Studenten«, erwiderte ich. »Obwohl ich Bennett ebenfalls gut leiden kann.« Bennett war ein kleiner Mann mit schütterem Haar und Vollbart, der einer Pfeife mit gutem Tabak nie abgeneigt war. Ich war ihm im Hafen von Treedsgow begegnet, als er ein Foto von einem Gebirge gemacht hatte, das wie eine Fata Morgana über dem Meer erschienen war. Seine unvoreingenommene Art gegenüber dem Hafenvolk und mir ließen mich glauben, dass Waterstone sich nicht in ihm irrte.
Sieh mal einer an, meldete sich eine interessierte Stimme in meinem Kopf zu Wort. Vor nicht allzu langer Zeit hättest du nicht einmal deiner eigenen Mutter den Rücken gekehrt. Und nun vertraust du Menschen, weil sie nett sind? Wieder kam mir der Gedanke, dass ich unvorsichtig wurde.
»Miel ist der einzige meiner Studenten, dem ich vertraue«, entgegnete Waterstone knapp, woraufhin seinem Schützling die opulente Brust schwoll.
»Die beiden Chemiestudenten Malcolm und Clive haben sich ebenfalls als vertrauenswürdig erwiesen«, sagte ich.
»Ich kann sie holen«, bot Miel an. Waterstone willigte ein und folgte ihm zur Tür hinaus, um seinen Kollegen Bennett bei einer Tasse Kaffee vorsichtig an die Situation heranzuführen. Indessen machten Rocío und Jasper sich daran, eine kräftigende Mahlzeit für Amrei zuzubereiten. Ich folgte ihnen in die Küche und kehrte mit einem Löffel von Waterstones Tafelsilber zurück. Norin hatte in seinen Memoiren erwähnt, dass Silber den Enerphagen nicht gut bekam. Erst, als Amrei den Löffel berührt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, konnte ich sicher sein, dass sie war, wer sie zu sein behauptete.
»Was weißt du noch über den Wurmgott?«, fragte ich die Violinistin, sobald wir allein waren.
»Nicht viel«, erwiderte sie. Wie sie meinem Blick auswich, kam mir der Verdacht, dass sie mir etwas verschwieg.
»Wie sah er aus?«
»Groß. Dunkles Haar. Dunkle Augen.« Sie erschauerte. »Er hatte ein Mal über der Augenbraue.« Das sogenannte Lotinsmal. Es kam